Gedenken an Befreiung von Auschwitz: "Geboren in der Hölle"
27. Januar 2025Ihnen sollen die Worte an diesem Tag gehören: den noch wenigen angereisten Überlebenden des ehemaligen Vernichtungs- und Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau. 56 sind zur Gedenkzeremonie an den Ort des Schreckens zurückgekehrt.
Am 27. Januar 1945 befreite die Rote Armee den Lagerkomplex im heutigen Polen, damals besetzt durch Nazi-Deutschland. Nur etwas mehr als 7000 Menschen waren noch vor Ort, ausgezehrt von der Haft und den Qualen.
Zwischen 1940 und 1945 ermordeten die Nationalsozialisten mehr als eine Millionen Menschen in Auschwitz und den mörderischen Außenlagern des Komplexes. Die meisten Opfer waren Juden und Jüdinnen. Aber auch Sinti und Roma, politische Gefangene, Homosexuelle, Gefangene aus Polen und anderen Nationen fielen dem mörderischen Regime zum Opfer.
Auschwitz wurde zum Inbegriff des Holocaust, zu dessen "Hauptstadt", wie es der Historiker Peter Hayes ausdrückte. Eine industrielle Mordfabrik, dessen ganze Dimension erst Jahrzehnte später wirklich fassbar wurde. Wenn man sie je wirklich erfassen kann.
Keine Reden von Politikern
80 Jahre später sind Überlebende, Staats- und Ehrengäste zum Jahrestag im ehemaligen Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau zur großen Gedenkzeremonie zusammengekommen. Für Deutschland sind Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und Bundeskanzler Olaf Scholz angereist.
Anders als bei vergangenen runden Jahrestagen gibt es keine Ansprachen von Politikern und Politikerinnen - trotz der angereisten rund 60 Delegationen. "Wir dulden kein Vergessen, nicht heute und nicht morgen", ließ Bundeskanzler Scholz stattdessen auf seinem Social-Media-Kanal verlauten.
Politisch wurde es in den Reden auf der Gedenkfeier dennoch. Der Terrorangriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 ist immer wieder Thema. Jüdische Studierende würden inzwischen weltweit ausgegrenzt, sagte der Präsident des Jüdischen Weltkongresses, Ronald S. Lauder. Als einziger jüdischer Staat, beklagte Lauder, werde Israel nun alleinig an den Pranger gestellt.
Vor allem aber sprechen die Überlebenden. An diesem Abend diese vier: Marian Turski, Janina Iwańska, Tova Friedman und Leon Weintraub. "Ich dachte immer, dass der 27. Januar mein Geburtstag ist. Viele Freunde wissen gar nicht, dass das gar nicht mein eigentlicher Geburtstag ist", sagt Tova Friedman zu Beginn ihrer Rede.
Überlebender Turski: "Tsunami des Antisemitismus"
Und Marian Turski begrüßt die Überlebenden im Publikum und erinnert an all jene, die nicht dabei sein können: "Unsere Gedanken sollten all jenen gelten, jene Millionen, die uns niemals erzählen können, was sie gefühlt haben, weil sie verzehrt wurden von der Massenzerstörung."
Die Überlebenden thematisieren an diesem Abend ihre eigenen Erfahrungen und spannen den Bogen zu heute. Aktuell erlebe die Welt einen "Tsunami des Antisemitismus". "Beenden Sie das!", forderte Turski und bittet um eine Schweigeminute.
Viele Überlebende gibt es nicht mehr. Ihre Erfahrungen aber sind es, die die Erinnerung aufrechterhalten. In den Tagen vor der Gedenkzeremonie finden in Krakau und Oświęcim Begegnungen statt.
In Krakau hat das Jüdische Museum Galizien geladen, zum Gespräch mit Lidia Maksymowicz. Sie kam mit drei Jahren nach Auschwitz und fiel dem berüchtigten SS-Lagerarzt Josef Mengele zum Opfer. Er quälte sie mit Kochsalzlösungen, für medizinische Experimente.
Nach dem Krieg wurde Maksymowicz von ihrer Mutter getrennt und adoptiert. Sie habe alles neu erlernen müssen, erzählt sie. Sie habe sich gefühlt "wie ein wildes Tier, das nur Überlebensinstinkte hatte”.
Geboren im Vernichtungslager
Zu den letzten Zeitzeugen gehört auch Stefania Wernik. Obwohl sie sich selbst nicht an Auschwitz erinnern kann. Denn als das Vernichtungslager befreit wurde, war sie erst wenige Monate alt. Ihr Geburtsort aber sei die "Hölle", wie sie sagt - Auschwitz. Im November 1944. Ihre polnische Mutter war im April 1944 beim Schmuggeln erwischt und nach Auschwitz gebracht worden.
Sie war im zweiten Monat mit Stefania schwanger. Lange hielt sie das geheim. Als es auffiel, durfte sie ihr Kind bekommen - unter schwierigsten Umständen. Stefania Wernik wog nur zwei Kilogramm bei der Geburt.
Das alles erzählt sie einen Tag vor der Gedenkzeremonie in der Internationalen Begegnungsstätte in Oświęcim. Dem Ort also, der 1940 in Auschwitz umbenannt wurde und unmittelbar vor den Toren des Konzentrations- und Vernichtungslagers liegt.
Der Saal der Begegnungsstätte ist gefüllt. Rund 80 junge Erwachsene zwischen 17 und 25 Jahren sind gekommen - die meisten aus Deutschland, einige aber auch aus Frankreich und Polen. Die jungen Leute lauschen den Worten Werniks. Die Zuhörerinnen und Zuhörer tragen Maske, denn Wernik ist gesundheitlich angeschlagen.
Sie nehmen an der Jugendbegegnung des Deutschen Bundestages teil. Am Vortag haben die jungen Frauen und Männer die Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau besucht.
Opfer von Josef Mengele
Werniks Erzählungen lauschen sie still, nach ihren letzten Worten stehen alle auf und applaudieren, manche haben Tränen in den Augen. "Das, was ich mit der Muttermilch aufgenommen habe, in meine Seele, werde ich für immer in mir tragen", sagt Wernik auf Polnisch, eine Dolmetscherin übersetzt. "Ich kann nicht einfach so lachen."
Bis heute sei sie häufig krank und erschöpft. Als kleines Baby habe ihr der berüchtigte SS-Lagerarzt Josef Mengele vermutlich etwas gespritzt. Bis heute habe sie häufig Ekzeme und Ausschläge. Wernik stockt bei dieser Erzählung, muss sich kurz sammeln.
Die jungen Erwachsenen haben viele Fragen. Nach ihrem Trauma, was ihr Hoffnung gegeben habe. Wernik antwortet geduldig, möchte keine Frage übersehen. Ihre Antworten sind sanft und traurig zugleich.
Für den 21-jährigen Peter Cellestino Kraus war es eine Begegnung, die noch lange nachhallen wird. "Was der Holocaust versucht hat, ist die Menschen zu entmenschlichen und zu einer Zahl zu machen", sagt er. "Und wir müssen wieder vermenschlichen, den Menschen ein Gesicht geben, um zu verstehen, dass es Millionen Menschen gab, die von einem Morgen geträumt haben und dieses nie erlebt haben."
Überlebende Wernik: "Nie wieder Faschismus"
An diese Menschen erinnern auch die Überlebenden immer wieder, die bei der Gedenkzeremonie sprechen: "Wir wurden in ein moralisches Vakuum hineingeboren", sagt Tova Friedmann. Millionen haben dieses nicht überlebt. "Wir sind aber auch heute hier, um zu verkünden und zu versprechen, dass wir niemals zulassen werden, dass sich die Geschichte wiederholt."
Bei der Gedenkzeremonie an diesem Montag sitzt Stefania Wernik im Publikum. Tags zuvor hatte sie sich bei der Jugendbegegnungsveranstaltung zum Schluss direkt an die jungen Teilnehmer gewandt.
Sie hat ihre Worte aufgeschrieben, faltet ein Blatt Papier auseinander: "Nie wieder Krieg, nie wieder Faschismus. Sie müssen wachsam bleiben", gibt Wernik den Jugendlichen mit auf den Weg, "damit sich so etwas nie wieder wiederholt. Das habe ich geschrieben. Geboren in der Hölle, in Auschwitz-Birkenau".