Große Pläne, kleine Zahlen: Fachkräfte aus Afrika
26. Juni 2025"Und dann begann der Wahnsinn mit dem Visum."
Als Grace Ochieng (Name geändert) aus Kenia vor über einem Jahr den Prozess startete, um für ihr Studium nach Deutschland zu kommen, sprach sie bereits Deutsch. Doch das half der 26-Jährigen nicht, um mit der deutschen Bürokratie fertig zu werden. Trotz eines Stipendiums für ihr Studium in Internationalen Beziehungen, eines bestätigten Studentenjobs und eines dicken Ordners voller Papiere dauerte es zwei Monate, bis sie Ihr Visum in Händen hielt. "So sollte das nicht sein, das hat einen enormen Einfluss auf einen selbst und den Start an der Uni. Manche schaffen es wegen des ganzen Visumsprozesses nicht, hierherzukommen."
So wie Grace' Freundin: Das Visum für ihr Austauschsemester hing in der Bürokratie fest, schließlich war das Semester halb vorbei - und somit auch die Chance, in Deutschland zu studieren. "Es ist nicht einmal der gesamte Visumsprozess, der einen so erschöpft", erzählt Grace der DW. "Es ist vor allem die Kommunikation. Wenn man die deutsche Botschaft anruft, bekommt man keine Rückmeldung, und wenn man E-Mails schreibt, antworten sie nicht. Man hält ständig den Atem an, weil man nie weiß, ob sie "Ja" oder "Nein" sagen werden."
Neue Perspektiven für ausländische Fachkräfte?
Grace ist nicht die Einzige. Teresia Träutlein kam 2007 als Au-pair nach Deutschland. Zu kämpfen hatte sie damals nicht nur mit der Sprache, sondern auch mit der deutschen Bürokratie. Erfahrungen, die ihr später helfen sollten, denn die gelernte Altenpflegerin leitet heute zusammen mit ihrem Mann eine Pflegedienstvermittlung in der Nähe von Heidelberg. Dort beschäftigt sie über 20 afrikanische Pflegekräfte und Auszubildende.
Doch für die ist der Weg ins deutsche Berufsleben alles andere als leicht, weiß Träutlein. "Wir haben aktuell eine Gruppe aus Kenia, die wir nach Deutschland begleiten, und wir hängen fest aufgrund der ganzen Bürokratie für das Visum. Wir haben die Erfahrung, dass es durch den Anerkennungsprozess ewig dauert. Das Frustrierende sind auch die Behördengänge, die kulturelle Integration, der Wohnungsmangel."
Deutschland benötigt jährlich zwischen 288.000 und 400.000 ausländische Fachkräfte, so eine Studie der Bertelsmann Stiftung 2024 sowie Schätzungen vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB). Ohne diese Zuwanderung würde das Arbeitskräfteangebot in Deutschland bis 2040 deutlich sinken, was negative Folgen für Wirtschaftswachstum und Wettbewerbsfähigkeit hätte. Im April 2025 meldete die Bundesagentur für Arbeit rund 646.000 offene Stellen, vor allem in IT, Gesundheit, Technik und Bildung. Hier will Deutschland anpacken.
Deutschland will ausländische Arbeitskräfte - oder doch nicht?
Seit Juni 2024 gibt es in Deutschland die Chancenkarte, ein Visum für Fachkräfte aus Nicht-EU-Staaten, die ohne festen Arbeitsvertrag nach Deutschland einreisen und dort eine passende Stelle suchen wollen. Voraussetzung sind mindestens eine zweijährige Berufsausbildung oder ein Hochschulabschluss und einfache Deutsch- oder Englischkenntnisse. Außerdem werden über ein Punktesystem Faktoren wie Berufserfahrung, Alter und Deutschlandbezug miteingerechnet.
Über das neue Auslandsportal des Auswärtigen Amts können Fachkräfte aus dem Ausland seit 2025 ihr Visum online beantragen. Dieses Portal soll an 167 Visastellen weltweit die digitale Antragstellung für verschiedene Visakategorien ermöglichen, darunter auch die Chancenkarte. Das Visaverfahren soll so schneller und effizienter werden. Politiker wie die ehemalige Bundesinnenministerin Nancy Faeser bekräftigen: "Wir setzen auf Sprachkenntnisse, Qualifikationen und Erfahrungen, um motivierte und talentierte Kräfte nach Deutschland zu holen. So können Menschen mit Erfahrung und Potenzial schneller und einfacher einen passenden Job finden und mit anpacken."
Was bringen Migrationsabkommen und Chancenkarte?
Im September 2024 schloss Deutschland zudem ein Migrationsabkommen mit Kenia. Ziel ist es, die Anwerbung von Fachkräften, insbesondere in Pflege und Gastgewerbe, zu fördern und gleichzeitig Abschiebungen von Menschen ohne Bleiberecht zu erleichtern. Ex-Bundeskanzler Olaf Scholz hob hervor, dass Kenia "unglaublich viele IT-Experten" habe, die von einer Ausbildung in Deutschland profitieren könnten. Kenia ist bisher das einzige afrikanische Land, mit dem Deutschland ein Migrationsabkommen hat, doch im dritten Quartal 2024 reisten nur etwa 90 kenianische Pflegekräfte nach Deutschland ein.
Bürokratie und strenge Anforderungen schrecken viele qualifizierte Bewerber ab. Auch wenn umfassende Statistiken zu abgelehnten Visaanträgen schwer zugänglich sind, gibt es Anzeichen, dass die Ablehnungsquoten teils bedeutend sind. In einer Kleinen Anfrage der Bundestagsabgeordneten Clara Bünger und der Fraktion Die Linke vom April 2025 zu Visaerteilungen im Jahr 2024 steht: "Vor allem in den subsaharischen afrikanischen Ländern sind die Ablehnungsquoten sehr hoch."
Viele Visa-Anträge aus Afrika abgelehnt
In einer Datenanalyse hat die DW die Visa-Vergabe 2024 anhand von Daten aus den deutschen Auslandsvertretungen ausgewertet. Demnach hat Deutschland 2024 insgesamt 50.815 Visa an Afrikaner vergeben, davon waren 20.545 (40%) für Erwerbstätigkeit bestimmt, einschließlich Wissenschaftler, Hochqualifizierte, Praktika, Au-pair und Freiwilligendienste. Für Menschen aus Subsahara-Afrika wurden 22.668 Visa ausgestellt, davon 7.966 (35%) für Erwerbstätigkeit.
Vom Auswärtigen Amt gibt es keine aktuellen Zahlen dazu, wie viele Arbeitsvisa für Afrikanerinnen im letzten Jahr abgelehnt wurden. Die Linke schreibt dazu in ihrer Anfrage: "Die Bundesregierung hat zuletzt mehrfach die offene Angabe von Ablehnungsquoten im Visumverfahren verweigert bzw. entsprechende Antworten als vertraulich eingestuft. Zur Begründung hieß es, dass die Veröffentlichung länderspezifischer Ablehnungszahlen 'die Beziehungen zu dem betroffenen Staat beeinträchtigen' könne."
Auch wenn keine Daten nach Land der Antragstellung aufgeschlüsselt veröffentlicht werden, so erlaubt die Antwort der Bundesregierung auf die Anfrage der Partei Die Linke doch einen Einblick in die deutsche Visa-Politik: Weltweit betrachtet gibt Deutschland den meisten Visa-Anträgen statt, im Mittel rund 87%. Dabei macht es keinen Unterschied, ob es sich bei dem Visum speziell für ein nationales Visum für Deutschland handelt - etwa für eine Erwerbstätigkeit - oder um ein Visum für den Schengenraum, beispielsweise für einen Urlaub.
Vor diesem Hintergrund lohnt es sich, einen genaueren Blick auf die vorliegenden Zahlen für Schengen-Visa zu werfen. Denn während keine Zahlen zur Ablehnungsrate deutscher Arbeitsvisa nach Land der Antragstellung oder im zeitlichen Verlauf vorliegen, so gibt es diese Informationen für Schengen-Visa für Kurzaufenthalte schon. Hier zeigt sich ein klares Bild: Menschen aus Subsahara-Afrika haben deutlich schlechtere Chancen, ihre Schengen-Visa-Anträge werden häufiger abgelehnt als die von Menschen anderer Regionen. Das gilt sowohl für Anträge, die in deutschen Auslandsvertretungen gestellt werden, als auch für Anträge, die in den Auslandsvertretungen anderer Schengenstaaten gestellt werden.
"Das Visum ist das größte Problem," sagt Khadi Camara vom Afrika-Verein der deutschen Wirtschaft der DW. "Die Chancenkarte ist nur für manche Personen eine Chancenkarte. Man muss es erstmal schaffen, diese Bedingungen zu erfüllen. Das sind nicht unbedingt die Kriterien, die Unternehmen als relevant erachten, sondern, was die Bundesregierung als Maßstab festgelegt hat."
Problematisch werde es bereits bei den notwendigen Unterlagen für das Visum. "Die deutschen Behörden möchten diese Zeugnisse teilweise im Original, was manchmal nicht möglich ist. Dann müssen Antragsteller nachweisen, inwieweit sie für sich selbst sorgen können. Selbst wenn die Unternehmen Kosten für die Antragsteller übernehmen, reicht das manchmal nicht aus."
Zu betonen ist jedoch auch, dass, zumindest gemessen an den Zahlen für Schengen-Visa, Menschen aus Subsahara Afrika ähnlich gute (oder bessere) Chancen auf ein Schengen-Visum von einer deutschen Botschaft haben wie in allen anderen Botschaften - mit Ausnahme von Angola, Mauretanien und Tansania.
Kann Deutschland ein Zuhause sein?
Fraglich sei auch, ob Deutschland überhaupt ein attraktives Arbeitsland für diese Fachkräfte sei. "Das politische Klima in Deutschland ist absolut relevant. Nicht nur im Sinne von inwieweit diese Regierung gewillt ist, Anpassungen vorzunehmen, sondern kann Deutschland überhaupt ein Zuhause sein für Menschen aus Kenia, Ghana, Sierra Leone oder Südafrika", so Camara. "Wir müssen das Rassismus-Problem thematisieren. Die Bundesregierung muss sich klar positionieren, dass die Menschen hier willkommen sind."
Dazu gehöre, dass Sprachbarrieren abgebaut würden. "In anderen Ländern müssen diese Sprachbedingungen nicht erfüllt werden und deswegen sind diese Länder dann vielleicht auch attraktiver. Man erinnere sich an (den damaligen Finanzminister, d. Red.) Lindner vor einem Jahr, als er in Ghana an einer Universität gefragt hat, wer will in Deutschland arbeiten, und niemand hob die Hand."
Träutlein und Grace bekräftigen jedoch aus Erfahrung, dass Deutsch durchaus notwendig sei für ein integriertes Leben in Deutschland. Träutlein fordert daher: "Wenn die Regierung sagt, wir wollen Fachkräfte nach Deutschland holen, dann sollen sie auch die Sprachausbildung in den Ländern unterstützen. Ohne die Sprache komme ich nicht weiter. Sonst bleibe ich isoliert."
Deutsche Wirtschaft fordert Lösungen
Camara sieht Deutschland jetzt im Zugzwang, Fachkräften ein gutes Angebot zu machen: "Die Chancen stehen nicht schlecht, weil man jetzt liefern muss. Aktuell zerbrechen globale Allianzen, man muss sich neue Partner suchen. Und viele davon liegen auf dem afrikanischen Kontinent."
Damit die Fachkräfteeinwanderung reibungslos ablaufen kann, müssten deutsche Unternehmen in afrikanischen Ländern die Ausbildung ihrer lokalen Mitarbeiterinnen verbessern, "damit sie auf ein Niveau kommen, das für Deutschland relevant ist. Dann müssen Abschlüsse anerkannt werden und damit auch die Visaverfahren." Und zuletzt müsse Deutschland bürokratische Hürden für deutsche Unternehmen abbauen.
Träutlein hofft hier auf Unterstützung. Sie und ihr Mann haben es sich zur Aufgabe gemacht, den Onboarding-Prozess für neue Mitarbeiter aus Kenia zu vereinfachen - und bauen dort privat eine Sprach- und Pflegeschule. "Wir sind ein kleines Unternehmen, aber mit einem Ziel: Die Arbeitslosigkeit in Kenia zu bekämpfen und wiederum diese benötigten Arbeitskräfte nach Deutschland zu bringen." Und das, sagt Träutlein, mache die Einwanderung qualifizierter Fachkräfte nach Deutschland zu einer "Win-Win-Situation für alle Beteiligten."
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