Gewalt gegen Frauen: Mit TikTok aus der toxischen Beziehung
7. März 2025Mit übergeschlagenen Beinen, in beigen Kitten-Heels und Anzughose sitzt Linda Loran kerzengerade auf einem Barhocker und verliest - schmunzelnd – einige der Hasskommentare unter ihren TikTok-Videos. Hörprobe: "Du wiegst 50 Kilo und deine Tüten weisen das Vierfache Gewicht deines Hirns auf". Im Publikum bricht Gelächter aus.
Loran ist an diesem Abend zu Gast bei den "Monday Talks", einer feministischen Talk-Reihe in einer Bar in Berlin-Neukölln. Organisiert wird der Abend von der TikTok-Aktivistin Alina Kuhl, die vier Rednerinnen sind ebenfalls TikTokerinnen. Der Raum ist bis auf den letzten Platz gefüllt, manche quetschen sich stehend in die Gänge.
Feminismus auf Social Media
Nervös wirkt Loran nicht, im Gegenteil. Die Frisur sitzt. Der Humor ist trocken, wie in ihren TikTok-Videos, in denen sie darüber spricht, warum Frauen und Männer in Beziehungenbleiben, obwohl sie unglücklich sind. Ihren Ex-Partner überzieht Loran mit Vorwürfen. Dafür erntet sie Lacher, aber auch viele Hasskommentare.
Manchmal, sagt Loran, wisse sie selbst nicht, ob sie lachen oder weinen solle. Mit fester Stimme sagt sie: "Ich habe auf TikTok öffentlich gemacht, wie ich in meiner letzten Beziehung missbraucht und gedemütigt wurde, von sexuellen Grenzüberschreitungen bis hin zu körperlicher Gewalt. Und ich finde, dass mehr Frauen ihre Erfahrungen öffentlich machen müssten, weil das Schweigen nur die Täter schützt."
Die Geschichte einer toxischen Beziehung
Sie selbst hat ihr Schweigen vor drei Jahren gebrochen, auf TikTok. Das habe sie viel Überwindung gekostet. Lorans Geschichte ist eigentlich nichts, was man mal eben so bei einer Tasse Kaffee erzählt. Doch Loran tut genau das – nur wenige Stunden vor ihrem Auftritt bei der abendlichen Talkrunde.
Es ist 11 Uhr vormittags, der Spreekanal leuchtet in der Frühlingssonne, Loran bestellt sich einen Latte Macchiato. Statt Kitten Heels trägt sie Sneakers und eine große Sonnenbrille, ein Wollschal hängt über ihren Schultern.
Heute hat Loran drei Kinder. Dabei wollte sie eigentlich nie Kinder haben. "Ich wollte Reisen und Karriere machen", erzählt sie. Doch es kam alles anders. Mit 19 Jahren, kurz vor dem Abitur, wurde sie ungewollt schwanger.
"Ich habe mein Abi mit Baby gemacht", sagt Loran. Schlaflose Nächte, am nächsten Morgen dann Schule. "Ich saß nachts mit meinem Sohn zusammen auf dem Bett und habe geweint", erinnert sich die heute 31-jährige. Sie habe geweint, weil sie sich von ihrem Partner und seiner Familie nicht unterstützt fühlte, doch genauso wenig von ihrer eigenen, streng-konservativen Familie.
"Es fühlte sich an wie alleinerziehend"
Loran nennt es Missbrauch durch ihren Ex-Partner, das alles begann schleichend: "Es fing mit banalen Dingen an, wie fehlender Unterstützung während der Schwangerschaften und mit den Kindern", so Loran. Dann waren da Vorwürfe, sie arbeite zu viel, statt sich um die Kinder zu kümmern.
Der Ex-Partner habe versucht, sie finanziell zu bevormunden. Irgendwann habe er angefangen, ihr Geld zu klauen, ihr Portemonnaie oder ihre Schlüssel zu verstecken.
Nach der zweiten Schwangerschaft sei er bei einem Streit zum ersten Mal handgreiflich geworden: "Arme verdrehen, schubsen und so", erinnert sich Loran. Immer wieder schlief er mit ihr, erzählt sie, auch gegen ihren Willen: "Es gab kein Nein".
Sie schiebt ihre Sonnenbrille hoch wie ein Visier. In ihren Augen glänzen keine Tränen. Ist sie wirklich diese selbstbewusste Frau? Eine Frau, die sich nicht unterkriegen lässt?
"Und dann war da der Streit kurz vor Weihnachten 2017", sagt sie. Da war Loran gerade mit dem dritten Kind schwanger, einer Tochter. Ihr Ex-Partner hielt sich nicht an eine gemeinsame Verabredung und kam statt um 12 Uhr mittags zu den Weihnachtsvorbereitungen um neun Uhr abends nach Hause, sturzbesoffen, auf allen Vieren kriechend, das Haus vollkotzend.
In dem Streit habe er seine schwangere Freundin durch die obere Etage des gemeinsamen Hauses geschubst, bespuckt, ihr die Arme verdreht, sie gewürgt und beleidigt. Er habe gedroht, sie umzubringen.
An einem Bein habe er sie ins Arbeitszimmer gezogen, wo er sie beide einschloss und auf Loran einredete, sie solle sich selbst das Leben nehmen. Kurz darauf gestand er ihr wie im Fiebertraum seine Liebe. Der älteste Sohn habe den Vater angefleht, dass er Mama nicht umbringe.
Am nächsten Morgen konnte der Mann sich offenbar an nichts mehr erinnern. In ihrer Verzweiflung wandte Loran sich an seine Familie. Sie erzählte seiner Mutter, was der Sohn getan hatte.
"Ihre einzige Reaktion war die Frage, ob ich oft genug mit ihm Sex habe", sagt Loran. "Da stand ich dann, mit 25, schwanger mit dem dritten Kind, und habe mich wirklich gefragt, ob es vielleicht meine Schuld ist, dass mein Partner mir gegenüber aggressiv ist", so Loran.
Hoffnung durch Social Media
In dieser Zeit fand sie auf YouTube Videos von anderen alleinerziehenden Müttern mit ähnlichen Erfahrungen. "Diese Videos haben mir Mut gemacht", so Loran.
Sie fasste den Entschluss, sich zu trennen. Sie setzte sich eine Deadline: Nach der Elternzeit. Zugleich hatte sie Angst – vor der Stigmatisierung als alleinerziehende Mutter, vor einem Leben am Existenzminimum, um ihre Kinder, die ohne Vater dastehen würden. "Ich bin selbst ohne Vater aufgewachsen und wollte meinen Kindern mehr bieten, familiäre Stabilität ebenso wie finanzielle", sagt sie.
Ermutigung anderer Frauen
Längst fühlte sie sich von ihrem Umfeld isoliert. Ihre Freundinnen sah sie nur alle paar Wochen, zu ihrer Familie hatte sie kaum Kontakt, seit sie als 15-Jährige ausgezogen war, um dem eigenen Elternhaus zu entfliehen, wo sie häufig geschlagen wurde.
In den sozialen Medien stieß Loran auf Gleichgesinnte. Eineinhalb Jahre, nachdem sie den Entschluss gefasst hatte, trennte sie sich. 2019 war das. In den darauffolgenden Jahren begann sie ein Studium, anfangs noch mit Unterstützung ihres Ex-Partners.
Sie fing an, ihre Geschichte in Videos auf TikTok zu erzählen. Inzwischen verdient sie mit ihrem TikTok-Kanal Geld. Das hilft ihr neben einem Job in einem Supermarkt.
TikTok sei ein Ort, sagt sie, an dem man seine Geschichte erzählen und gleichzeitig von den Erfahrungen anderer betroffener Frauen lernen könne. Erst durch TikTok seien ihr die gesellschaftlichen Probleme anderer Menschen ins Bewusstsein gerückt – etwa der Frauen of Color. TikTok habe ihr außerdem die Augen dafür geöffnet, dass sie mit ihrer Geschichte nicht allein dasteht.
Nun also sitzt Loran in einer feministischen Talkrunde in einer Bar in Berlin und kann über Hasskommentare im Netz nur trocken lachen. Aus dem Publikum meldet sich eine Frau mit der Frage, ob sie wegen der Anfeindungen auf TikTok schon mal darüber nachgedacht habe, aufzuhören.
Loran muss nicht lange nachdenken: "Wenn nur eine Frau meinen Content sieht und es schafft, sich aus einer toxischen Beziehung zu befreien, dann mache ich weiter."