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"Es gibt ehrgeizige Vorstellungen der bulgarischen Politik"

17. Januar 2002

– Interview mit Gernot Erler, stellvertretender Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion

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Sofia, 16.1.2002, 1010 GMT, RADIO BULGARIEN, deutsch

Montag (14.1.) war der Bundestagsabgeordnete Gernot Erler, stellvertretender Fraktionsvorsitzender der SPD zu einer Kurzvisite in Bulgarien. Der Besuch erfolgte auf Einladung des Bulgarisch–Deutschen Forums und des Regionalbüros der Friedrich-Ebert-Stiftung in Sofia. Mehr zum Thema in folgenden Beitrag von Aleko Djankow.

Gernot Erler gilt seit langem als Freund Bulgariens. Anfang der 90er Jahre war er einer der Mitbegründer des Deutsch-Bulgarischen Forums in Bonn, einer Organisation, die sehr viel für die Entwicklung der bilateralen Beziehungen getan hat. Zu ihren Mitgliedern zählen nicht nur Politiker aller Couleur, sondern auch Journalisten, Publizisten, Geschäftsleute und Bulgaren, die in Deutschland leben. Während seiner Visite in Sofia traf Gernot Erler mit verschiedenen Vertretern der bulgarischen Staatsführung zusammen und hielt am Abend einen Vortrag über die deutsche Außenpolitik in Südosteuropa nach dem 11. September vergangenen Jahres. Im Anschluss daran hatte ich die Gelegenheit, folgendes Gespräch mit ihm zu führen. Die erste Frage betraf natürlich die Hauptakzente seiner politischen Gespräche in unserer Hauptstadt.

Erler:

Natürlich ging es darum, zunächst über den Fortschritt beim Verhandlungsprozess mit der EU hier zu sprechen. Das heißt, ich habe mit Frau Kunewa (Hauptverhandlungsführerin mit der EU - MD) ausführlich und detailliert über die aktuellen Verhandlungen geredet. Dann bin ich zusammengekommen mit dem neugewählten, aber noch nicht im Amt befindlichen Präsidenten Parwanow, wobei er einige interessante Aspekte der Unterstützung der europäischen Integration Bulgariens mit mir beraten hat. Ich finde sehr bemerkenswert, dass er seine erste Auslandsreise nach Brüssel machen möchte, um auch ein Signal zu setzten. Und ich bin sicher, dass es noch in diesem Jahr zu einer offiziellen Einladung Parwanows nach Berlin kommt. (...) Aber natürlich wird eine solche Einladung erst in Frage kommen, wenn der Präsident auch im Amt ist.

Frage:

Nach Ihren heutigen Gesprächen, wie würden Sie die Chance beurteilen, dass Bulgarien in die NATO und EU eingeladen wird?

Erler:

Die Verhandlungen mit der EU laufen nun schon, und es bleibt die Frage, wann die Verhandlungen abgeschlossen werden. Hier gibt es sehr ehrgeizige Vorstellungen der bulgarischen Politik. Man spricht von einer Beendigung der Kapitel bis zum Jahr 2003 und sucht nach einer Möglichkeit, schon an den europäischen Wahlen 2004 teilzunehmen. Das ist ein sehr ehrgeiziger Zeitplan, dessen Umsetzung natürlich letztendlich von den Vorschüssen der bulgarischen Politik abhängt, der keine formalen Hindernisse hat. (...) Was die NATO angeht, gehört Bulgarien zu den sieben Staaten, die große Anstrengungen machen, um auch die Kriterien für den NATO-Beitritt zu erfüllen. Und Bulgarien hat gerade auch nach dem 11. September und auch bei verschiedenen internationalen Missionen seine Verantwortungsbereitschaft unter Beweis gestellt, was zu würdigen ist. Die Entscheidung über die Frage, wer eingeladen wird nach Prag, ist noch nicht gefallen, weder in europäischen Staaten noch in den Vereinigten Staaten. (...)

Frage:

Man hört in letzter Zeit oft, dass Deutschland eher dazu neigen würde, für den EU-Beitritt z.B. Kroatien zu bevorzugen. Wie würden Sie diese Vermutung, sag ich mal, kommentieren?

Erler:

Man muss sehr deutlich unterscheiden zwischen der politischen und fachlichen Ebene. Der EU-Beitrittsprozess ist sehr stark objektiviert. Hier gibt es objektive Fortschrittsberichte, bei denen entscheidend ist, ob die Kriterien, ob die Kapitel abgehandelt worden sind und mit welchem Erfolg oder nicht. Und da ist nur wenig Spielraum für irgendwelche Präferenzen einzelner Mitgliedstaaten. Und letztendlich spielt es keine Rolle, weil das eine Entscheidung der EU selber ist. (...)

Frage:

Nach zehn Jahren erfolgloser Balkanpolitik der Europäischen Union, nach mehreren Kriegen mit zehntausenden Opfern, wie wird sich die Europäische Union für die nahe Zukunft hier auf dem Balkan engagieren?

Erler:

Obwohl es so überraschend vielleicht klingen mag, aber nach den vielen Misserfolgen auch von präventiver Politik sehen wir in den Vermittlungserfolgen im Mazedonien-Konflikt doch einen positiven Ansatz. Eigentlich hat hier zum ersten Mal die Europäische Union ihre Fähigkeit zu einer abgestimmten gemeinsamen Politik mit den internationalen Institutionen, mit der NATO, mit den Vereinigten Staaten, der UNO, der OSZE unter Beweis gestellt und hat es geschafft, eine Verhandlungsgrundlage mit bestimmten Sicherheitskomponenten zur Grundlage für einen Friedensprozess zu machen. Der ist noch nicht völlig abgesichert, weil die Umsetzung z.B. der Verfassungsänderungen in Mazedonien noch bevorsteht. Deutschland hat hier große Mitverantwortung übernommen. Und wir hoffen eigentlich, dass bis zu dem vorgesehenen Wahltermin im Frühjahr doch hier die Umsetzung soweit geschehen ist, dass man sagen kann, Mazedonien zeigt eine Umkehr, zeigt einen Lernprozess (...) und ist vielleicht, und das hoffen wir, die letzte Herausforderung dieser Art, was Konflikte auf dem Balkan angehet, unter der Voraussetzung, dass sie künftig auf solche krisenhafte Entwicklung besser vorbereitet sind. (fp)