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PolitikEuropa

Ekrem Imamoglu: Jetzt trifft es die Kulturszene

10. April 2025

Die Verhaftung des Istanbuler Bürgermeisters Ekrem Imamoglu zieht weiter Kreise: In der Türkei stehen nun auch Schauspieler unter Druck, weil sie sich öffentlich mit Boykottaufrufen gegen die Regierung solidarisieren.

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Ein Plakat mit der Aufschrift: "Ihr könnt doch nicht alle verhaften"
Ihr könnt doch nicht alle verhaften“ - mit diesem Plakat zeigten Studierende in Rom Solidarität mit den Protesten in der TürkeiBild: Marco Di Gianvito/Zumapress/picture alliance

Die Türkei erlebt derzeit eine neue Welle politischen Drucks auf Andersdenkende. Sie begann mit der Festnahme des Präsidentschaftskandidaten und Istanbuler Bürgermeisters Ekrem Imamoglu am 19. März. Nun hat die Repressionswelle auch die Kunst erreicht: Vor allem Schauspieler geraten zunehmend ins Visier der Behörden -weil sie die  Boykottaufrufe der Opposition unterstützen.

Diese ruft zum Boykott von regierungsnahen Unternehmen, staatsnahen Medien und sogar Café-Ketten auf, die mit dem Umfeld von Präsident Erdogan in Verbindung gebracht werden. Die Strategie zeigt Wirkung: Mehrere Regierungsvertreter warfen der Opposition bereits vor, "nationalen und lokalen Marken" sowie der türkischen Wirtschaft zu schaden.

Viele Menschen erwarteten klare Solidaritätsbekundungen von Prominenten - vor allem in den sozialen Medien. Einige bekannte Namen kamen dieser Erwartung nach, andere schwiegen. "Normalerweise muss sich kein Schauspieler zu politischen Entwicklungen äußern. Aber da sich die Türkei gerade an einem Wendepunkt befindet, finde ich diese Erwartung nachvollziehbar", so der Politikwissenschaftler Berk Esen im Gespräch mit der DW.

Leere Tische in Restaurants in Istanbul
Der landesweite Boykott veränderte das Straßenbild in der Türkei: Am 2. April kam es zu einem umfassenden KaufstreikBild: Pelin Ünker/DW

Viele verlieren ihre Jobs

Offene Unterstützung kam von einigen Schauspielern, die sich klar zu den Boykottaufrufen bekannten. Sie alle wurden vom Erdogan-System auf die eine oder andere Weise bestraft. Drei von ihnen - Aybüke Pusat, Furkan Andic und Boran Kuzum - spielten in Serien mit, die vom öffentlich-rechtlichen Sender TRT produziert werden. Sie wurden entlassen, nachdem sie in sozialen Medien zum Boykott aufgerufen hatten. Auch die Schauspielerin Basak Gümülcinelioglu verlor ihren Job – weil sie sich öffentlich hinter Pusat gestellt hatte.

Zwei weitere Schauspieler - Rojda Demirer und Alican Yücesoy - dürfen sich nicht mehr auf der Plattform X äußern: Ihre Accounts wurden gesperrt. Der Schauspieler Cem Yigit Üzümoglu wurde sogar festgenommen – nur weil er Boykottaufrufe öffentlich unterstützt hatte. Zwar wurde er nach kurzer Zeit wieder freigelassen, doch der Einschüchterungsversuch war unübersehbar. Diese Schauspieler gehören zu den Hauptdarstellern populärer Serien, die täglich von einem Millionenpublikum gesehen werden.

Aybüke Pusat
Aybüke Pusat sorgte als erste Schauspielerin mit ihrer Unterstützung für Boykottaufrufe für Aufsehen – nach ihrer Entlassung folgte breite SolidaritätBild: Ozgur Gudersoy/ANKA

"Zensur muss aufhören"

Klare Unterstützung erhielten die betroffenen Schauspieler von der türkischen Schauspielergewerkschaft. "Der Druck auf die Kunst verändert sich überall auf der Welt - auch in der Türkei. Er äußert sich häufig in Form von Zensur. Zensur ist ein Verstoß gegen demokratische Prinzipien. Kunst bringt die Gesellschaft zum Nachdenken und emanzipiert sie. Einschränkungen künstlerischer Ausdrucksformen müssen aufhören", erklärte die Gewerkschaft auf Anfrage der DW.

Auch nach 23 Jahren AKP-Herrschaft trauen sich junge Künstler, öffentlich gegen die Regierung Stellung zu beziehen – das sei respektabel, sagt Esen. "Die Regierung hat eine klare Botschaft gesendet. Sie hat es geschafft, die anfängliche Euphorie zu bremsen", analysiert er und ergänzt:

"Dass sich diese Künstler trotz möglicher Konsequenzen äußern, ist bemerkenswert. Das sind keine Leute, die sich regelmäßig zu politischen Themen äußern oder offen parteipolitisch auftreten. Sie sind jung – sie gehören zu einer neuen Generation. Ich denke, das ist eine gute Nachricht für die Türkei."

Zwei Menschen umarmen sich während der Proteste
Bei den Demonstrationen gegen die Verhaftung von Ekrem Imamoglu wurden Tausende festgenommenBild: KEMAL ASLAN/AFP/Getty Images

Kein Platz im Staatsfernsehen

Für besondere Empörung sorgt die Tatsache, dass die meisten Entlassungen im - von allen Bürgern finanzierten - öffentlich-rechtlichen Rundfunk stattfinden. "Es ist kein Geheimnis, es wird sogar offen gesagt, dass die Schauspieler wegen ihrer Haltung, die nicht mit der Regierung übereinstimmt, entlassen werden", heißt es von der Schauspielergewerkschaft.

Und weiter: "TRT ist ein Staatssender, der durch die Steuergelder der Bürger finanziert wird. Die Meinungsfreiheit ist in der Verfassung verankert. Es kann nicht sein, dass unsere Kollegen entlassen werden, nur weil sie ihr verfassungsmäßiges Recht wahrnehmen. Kein Bürger darf so behandelt werden."

Unter anderem forderte der regierungsnahe Kommentator Cem Kücük die Schauspieler öffentlich zum Rückzug auf. "Wer im Staatsfernsehen versucht, den Staat zu stürzen, wird einen Preis dafür zahlen", schrieb Kücük auf X. Ein anderer regierungstreuer Nutzer kommentierte: "Vom Staat bezahlt werden und gleichzeitig zum Boykott des Staates aufrufen - das geht gar nicht."

"Dass der TRT diese Schauspieler entlassen hat, überrascht mich nicht. Es zeigt einmal mehr, wie parteiisch und regierungstreu der Sender ist", kritisiert Esen. Auch die Sozialwissenschaftlerin Asli Daldal Evren hält diese Entwicklung für nicht überraschend. "Da die gesamte Gesellschaft politischer Polarisierung und Druck ausgesetzt ist, war diese neue Repressionswelle zu erwarten", sagt die Expertin für das Verhältnis von Politik und Film. "Unsere Filmgeschichte ist voll von verbrannten Werken und unterdrückten Künstlern", ergänzt sie.

Türkei: Erdogan kämpft mit allen Mitteln um die Macht

"Schulterschluss – mehr denn je"

Daldal Evren weist auf strukturellen Missstände in der türkischen Serienbranche hin. "Unabhängig von der Politisierung ist die Branche problematisch. Die Schauspieler müssen extrem lange arbeiten und werden oft nicht fair bezahlt", sagt sie. Besonders frustrierend sei, dass einige wichtige Rollen nicht nach Talent, sondern nach politischer Nähe besetzt würden.

Während viele Regierungsanhänger fordern, Schauspieler sollten sich nicht in die Politik einmischen, sehen die Künstler das anders: "Man kann von keinem Beruf außer Polizei, Justiz und Militär verlangen, sich aus der Politik herauszuhalten. Jeder Bürger muss das Recht haben, sich politisch zu äußern", so die Schauspielergewerkschaft. Gemeinsam mit den Künstlern ruft sie zur Solidarität auf: "Gerade jetzt brauchen wir einen Schulterschluss – mehr denn je."

Berk Esen sieht auch die Oppositionsparteien in der Verantwortung: "Wenn es der Opposition gelingt, neue, kreative Protestformen zu entwickeln, werden die Künstler sie weiterhin unterstützen."

DW Mitarbeiter l Burak Ünveren, DW-Journalist
Burak Ünveren Redakteur. Themenschwerpunkte: Türkische Außenpolitik, Deutsch-Türkische Beziehungen.