DW Amharisch wird 60: "Unsere Kiemen zum Atmen"
4. April 2025Um ein Haar wäre der Geburtstag noch ins Wasser gefallen: Ausgerechnet in der Jubiläumswoche drohte die äthiopische Regierung der DW einmal mehr, allen lokalen Korrespondentinnen und Korrespondenten die Akkreditierung zu entziehen. In letzter Minute konnte der Deutsche Botschafter in Addis Abeba Schlimmeres verhindern.
Einmal mehr: In den 60 Jahren des Bestehens mussten sich schon deutsche Außenminister und zuletzt Kanzlerin Angela Merkel für die DW verwenden, als das Kurzwellensignal durch vorsätzliche Jamming-Angriffe über Monate gestört wurde.
Dabei war der Programmstart noch durchaus einvernehmlich: Die erste Sendung vom 15. März 1965 erscheint im Rückblick so staatstragend wie das Protokoll am Hofe des damaligen äthiopischen Kaisers Haile Selassie: Noch vor der "Einführung in das neue amharische Programm" darf der Botschafter des Kaiserreichs Äthiopien in der BRD ein Grußwort an die Kurzwellenhörer vom Horn von Afrika richten. Der Programmstart bringe einen "Lichtstrahl" nach Äthiopien, so der Diplomat.
Durst nach Wahrheit
Schon bald wird die Sendezeit um 17 Uhr Ortszeit im Volksmund zur "DW-Stunde". "Wir in Äthiopien sind wie Fische ohne Kiemen. DW Amharisch verleiht uns Kiemen zum Atmen". Dieses Zitat aus einem der unzähligen Hörerbriefe, später Emails, Textnachrichten und Social-Media-Kommentare bleibt über sechs Jahrzehnte der Tenor der Reaktionen aus dem Zielgebiet, die die Redaktion erst in Köln und später in Bonn erreichen.
Stimme der Freiheit
Seitdem kamen und gingen Monarchen und Gewaltherrscher, Hungersnöte und Bürgerkriege - und im gleichen Maße, wie einstige Hoffnungsträger die Erwartungen der extrem jungen Bevölkerung im Vielvölkerland Äthiopien enttäuschten, häuften sich die Angriffe auf den deutschen Auslandsrundfunk und sein amharisches Programm.
"Die DW spielt eine ganz zentrale Rolle in der Bereitstellung von Informationen in einem Land, in dem es kaum Zugang zu freien und verlässlichen Informationen gibt", gratulierte die Menschenrechtsorganisationen Human Rights Watch bereits zum 50. Bestehen.
Marktführer in Äthiopien
Daran hat sich auch zehn Jahre später nichts geändert. Die DW erreicht im zweitbevölkerungsreichsten Land Afrikas (rund 129 Millionen Menschen) mit ihren Radio-, Online- und TV-Angeboten jeden zehnten Äthiopier. Das amharische Radio-Programm ist der meistgehörte unter den internationalen Sendern.
"Das zeigt, dass wir über Themen berichten, die für die Bevölkerung relevant sind: politische Entwicklungen, soziale Herausforderungen und Perspektiven, die sonst überhört werden", sagt Programmdirektorin Nadja Scholz. "Wir sind stolz, mit unserer Arbeit einen Beitrag zur freien und kritischen Berichterstattung in Äthiopien zu leisten - einem Land, das faszinierend und kulturell und politisch unglaublich komplex ist." Gerade deshalb sei es enorm wichtig, dass Menschen dort Zugang zu unabhängigen Informationen bekämen.
DW-Chefredakteurin Manuela Kasper-Claridge lobt die Korrespondentinnen und Redakteure für ihre "professionelle und großartige Arbeit" - und hebt hervor, dass hier auch Themen enthalten seien, die das weibliche Publikum schätze. In Anbetracht der politischen und wirtschaftlichen Situation weltweit sei es wichtig, die Stimmen aus dem globalen Süden und aus Äthiopien zu hören und zuzuhören, was sie zu sagen haben.
Über die vielen Jahrzehnte sei DW Amharisch "durch alle Epochen, Regime und dunkle Zeiten für die Äthiopier immer eine verlässliche, glaubwürdige und ausgewogene Quelle gewesen", würdigt DW-Intendant Peter Limbourg die Arbeit der Redaktion. "Sie hat erfolgreich allen Zensurversuchen getrotzt. Deshalb schätze ich besonders, dass sich die Redaktion auch erfolgreich auf den digitalen Weg gemacht hat - von der Kurzwelle über Facebook zu YouTube, Telegram, TikTok."
Mehr junge Hörer
"Angesichts der dramatisch veränderten globalen Sicherheits- und Werteordnung brauchen wir auch in Zukunft in Äthiopien und am Horn von Afrika eine starke Stimme, die die junge Generation erreicht", sagt Limbourg.
Bereits Generationen von Äthiopiern seien mit der DW als vertrauenswürdiger Informationsquelle aufgewachsen, sagt Claus Stäcker, Afrika-Programmleiter der DW, im Rückblick.
"Heute gilt als Wahrheitsstandard, was wir berichten - gerade in Krisen- und Desinformationszeiten in einem problematischen und zensierten Medienumfeld. Unsere Zuwachszahlen auf den digitalen Kanälen zeigen, dass wir auch für die junge Zielgruppe attraktiv und relevant sind - nach dem Rückzug der einflussreichen Angebote von Voice of America sind die Erwartungen an die DW noch höher geworden."
Der US-amerikanische Auslandsrundfunk, kurz VOA, hat infolge eines Dekrets von US-Präsident Donald Trump gleich drei äthiopische Sprachdienste eingestellt, für die Amharisch-Redaktion Ansporn und Verantwortung zugleich - zumal vor der hochbrisanten Wahl 2026. "Zwangsläufig stehen wir damit unter noch größerer Beobachtung der Regierung, die kritische Medien im Vorfeld am liebsten mundtot machen will", bewertet Redaktionsleiter Ludger Schadomsky die Lage.
Ein Spagat, der gelingt
War die Erstsendung 1965 noch 15 Minuten kurz, sendet die DW heute per Kurzwelle und Satellit an sieben Tagen in der Woche eine volle Stunde auf Amharisch und ist gleichzeitig auf allen relevanten Social-Media-Kanälen präsent. "Die heterogene Zielgruppe und damit die Themensetzung zwischen radiophonem Gesundheitsmagazin und TikTok-Reel ist kein einfacher Spagat", so Schadomsky.
Doch offenbar gelingt der Spagat. Als die DW 2024 mit ihrer Afrikaberichterstattung im "Global Media Index" einen ersten Platz in der Kategorie "Ausgewogenheit" belegen konnte, gratulierte die treue Fangemeinde: "Deutsche Welle, du hast es dir verdient - ich bewundere euch", schreibt Aychew Brhan auf Facebook. "Ihr verdient Lob für eure Ausgewogenheit. Weiter so", schreibt Amix Amu Amir.