Droht Russland eine Aids-Epidemie?
28. Februar 2002Moskau, 28.2.2002, NOWYJE ISWESTIJA, russ., Natalja Timaschowa
Ärzte ziehen Bilanz des letzten Jahres. Dabei stellt sich heraus, dass sich im Jahr 2001 fast 100 000 Personen mit HIV infiziert haben. Diese Angaben bekräftigen, dass in Russland eine Aids-Epidemie droht. Nach Angaben des Gesundheitsministeriums gibt es derzeit in Russland 182 000 HIV-Infizierte. Die meisten davon seien in Moskau und dem Gebiet Moskau, dem Gebiet Swerdlowsk und in Sankt Petersburg registriert. Das teilte der Leiter des föderalen Zentrums für Vorbeugung und Bekämpfung von Aids beim Gesundheitsministerium der Russischen Föderation, Professor Wadim Pokrowskij, mit, der nicht ausschließt, dass die Epidemie in Russland Ausmaße wie in Afrika annehmen könnte. Auf dem schwarzen Kontinent sind teilweise bis zu 30 Prozent der Bevölkerung HIV-infiziert oder aidskrank. Die Prognosen des Experten sind mehr als pessimistisch: in den nächsten zehn Jahren können eine Million Russen an Aids sterben.
Für die Fachleute stellt es kein Problem dar, ihre Schlussfolgerungen zu bekräftigen. Die reale Situation in Russland sei viel schlimmer als die offizielle Statistik. "Die 182 000 registrierten HIV-Infizierten sind nur ‚die Spitze des Eisbergs‘", erklärte Wadim Pokrowskij. "Wir testen im Jahr lediglich zehn bis 15 Prozent der Bevölkerung. Rechnet man ein bisschen nach, stellt sich heraus, dass in Russland heute etwa eine Million Bürger HIV-infiziert sind. Hauptsächlich junge Leute im Alter zwischen 15 und 29 Jahren. In einigen Regionen sind bis zu fünf Prozent der jungen Männer, die in die Armee einberufen werden, HIV-infiziert."
Beunruhigung ruft bei den Ärzten auch eine Tendenz hervor, die sich erst kürzlich angedeutet hat. Die meisten Virusträger sind Drogenabhängige, unter denen sich Aids um ein Mehrfaches schneller verbreitet als insgesamt unter der Bevölkerung. In letzter Zeit steigt jedoch in Russland der Prozentanteil der Menschen, die sich beim Geschlechtsverkehr infizieren. Und das könnte das Tempo, mit dem sich die Infektion verbreitet, noch beschleunigen. Einige russische Fachleute gehen davon aus, dass wir es in Russland mit dem "dritten Typ der HIV-Epidemie" zu tun haben.
Der erste Typ wird in den Ländern Westeuropas und den USA beobachtet, wo sich hauptsächlich Drogenabhängige und Homosexuelle anstecken. Der zweite Typ - in Afrika, wo sich die Infektion in der Regel beim Geschlechtsverkehr verbreitet. Und nur wir gehen, wie immer, unseren Sonderweg. "In Russland hat die Zunahme der Zahl der Aids-Kranken mit der hohen Zahl der Drogenabhängigen zu tun. Diese Drogenabhängigen infizieren beim Geschlechtsverkehr andere Menschen", erläuterte Wadim Pokrowskij. Berechnungen von Ärzten zufolge kann ein infizierter Drogenabhängiger im Jahr 144 Personen anstecken! (...) (lr)