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Die USA haben "ihr" Lateinamerika, "ihr" Kanada. Wieso sollte Russland nicht "seine" GUS haben?

6. November 2003

– Politologen und Experten über die russischen Militärstützpunkte in den ehemaligen Sowjetrepubliken

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Moskau, 6.11.2003, MOSKOWSKIJ KOMSOMOLEZ, russ., Jurij Gawrilow

Die ausländischen Militärstützpunkte sind Pflöcke, mit denen die Großmächte ihre "Hinterhöfe", das heißt die Zonen ihrer nationalen Interessen markieren. Die Zone der Interessen Russlands sind die GUS-Staaten. Dort lebt eine russischsprachige Bevölkerung, dort haben die Einwohner Russlands viele Verwandte, dort sind unsere Wurzeln (und deren Wurzeln bei uns). Und es geht nicht nur um die Wurzeln. Russland versucht, indem es die GUS-Staaten für seine "Hinterhöfe" hält, diese nach Möglichkeit zu unterstützen – verkauft ihnen z.B. russisches Gas zu niedrigeren Preisen als dem Westen.

Es ist nur logisch, dass Russland auch eine bestimmte Verantwortung dafür trägt, was in der Zone seiner Interessen geschieht. Wenn dort eine Situation entsteht, die unsere nationale Sicherheit auf eine bestimmte Weise bedroht, müssen wir uns einmischen und Ordnung schaffen. Wenn nötig auch mit Gewalt.

Nur wir und niemand sonst.

Früher war diese unsere Position gegenüber den GUS-Staaten etwas selbstverständliches. Aber vor etwa einem Monat wurde sie öffentlich und offiziell von Verteidigungsminister Iwanow erläutert, und ... sofort tauchten Fragen und Zweifel auf.

Sind wir denn imstande, überall mit Gewalt Ordnung zu schaffen, wenn das, Gott bewahre, erforderlich sein sollte? Ja, Pflöcke haben wir noch seit den Sowjetzeiten stehen. Auf dem Territorium der GUS gab es bis jetzt nicht wenige Militäreinheiten, Militärstützpunkte und Objekte der Russischen Föderation. Diese fehlen lediglich in Turkmenistan und Usbekistan.

Aber die Lage unserer Stützpunkte ist nicht überall stabil. Zum Beispiel ziehen wir derzeit die 14. Armee aus Moldova ab (hätten sie bis Ende des Jahres abziehen sollen, was jedoch am Widerstand von Tiraspol scheitert). Georgien besteht auf dem Abzug unserer Truppen aus Batumi und Achalkalaki im Laufe von drei Jahren. Aserbaidschan erhebt Einwände gegen des Raketenabwehrobjekt in Gabala, weil wir mit der Bezahlung im Rückstand sind. Die Ukraine hat uns aus dem gleichen Grund den Zugang zum Flughafen Saki versperrt, wo sich das einzige Übungsgelände der Seefliegerkräfte befindet. Im Jahr 2017 läuft übrigens der Vertrag mit der Ukraine über Sewastopol aus. Es ist unklar, ob dieser verlängert wird oder die Schwarzmeerflotte gezwungen sein wird, nach Noworossijsk umzusiedeln.

Die alten Pflöcke wackeln und neue treiben wir nur selten in die Erde. Der Luftwaffenstützpunkt in Kant (Kirgisistan - MD), der von Präsident Putin feierlich vor zwei Wochen eröffnet wurde, ist der erste Fall in den letzten Jahren. Dabei darf nicht vergessen werden, dass dieser Stützpunkt hauptsächlich eingerichtet wurde, um ein "Gegengewicht" für den Luftwaffenstützpunkt "Manas" zu schaffen, der von der NATO während der Kämpfe mit den Taliban in Afghanistan bei Bischkek errichtet wurde.

Wie Sie sehen, rammt auch die NATO ihre Pflöcke allmählich auf dem Territorium der GUS ein. Und "Manas" ist bei weitem nicht der einzige Pflock. Es genügt auf die Karte zu sehen, um sich zu überzeugen.

Die Zone wessen Interesses ist das denn hier, wessen "Hinterhöfe"?

Kann denn Russland in der entstandenen Situation auf seinem Recht bestehen, Ordnung auf dem Territorium der GUS mit Präventivschlägen zu schaffen?

Oder muss diese Erklärung als eine Deklaration betrachtet werden, als ein Wunsch, der als Tatsache verkauft wird. Wird es nicht in Wirklichkeit so sein, dass Russland, wenn es, sagen wir mal, Ordnung in der Pankisi-Schlucht oder in Abchasien schaffen will, sein Vorgehen mit der NATO abstimmen muss?

Und wenn die NATO unser Bestreben nicht unterstützen wird – was dann?

Brauchen wir denn überhaupt Militärstützpunkte in den GUS-Staaten, wenn die Rede von Präventivschlägen ist? Nach nur einem solchen Schlag würden doch unsere dort stationierten Militärs zu Geiseln werden.

Wir haben Experten auf dem Gebiet der Politologie und des Militäraufbaus gebeten, diese Fragen zu beantworten.

Aleksej Arbatow, stellvertretender Vorsitzende des Staatsduma-Ausschusses für Verteidigung:

Vom militärischen Standpunkt her ist die Präsenz von Militärstützpunkten im Ausland immer von Vorteil. Bei Notwendigkeit kann ein Objekt angegriffen werden, das vom russischen Territorium nicht erreicht werden kann, oder andere Aufgaben gelöst werden. Auch geopolitisch gesehen hat die militärische Präsenz im Ausland einen Sinn. Wenn sich jedoch der Stützpunkt gegen den Willen der Länder dort befindet, dann sind Unannehmlichkeiten nicht zu vermeiden. Hypothetisch gesehen schließe ich z.B. die Möglichkeit nicht aus, dass unsere Militärs in Georgien umzingelt und als Geiseln genommen werden könnten. Eben so unklar ist die Situation mit einigen russischen Raketenfrühwarnstationen. Die Amerikaner haben solche Objekte auf den Territorien ihrer treuen Verbündeter – Großbritannien und Grönland - stationiert. Die Hälfte unserer Radarstationen befindet sich jedoch in Aserbaidschan, Weißrussland, Kasachstan und der Ukraine. Ehrlich gesagt bin ich nicht hundertprozentig sicher, dass die Aserbaidschaner oder die Ukraine nicht einmal bei irgend einer kleinen Auseinandersetzung diese Objekte vom Strom abschalten. Russland will erst noch neue Stationen bauen, deshalb müssen vorläufig die beibehalten werden, die es bereits gibt.

Die Möglichkeit, Präventivschläge zu versetzen, haben wir erwähnt, um nicht hinter den USA zurückzubleiben. Niemand hat jedoch genau formuliert, unter welchen Bedingungen es zu solchen Schlägen kommen könnte. Um die Demokratie in den Nachbarstaaten zu unterstützen? Ein Nonsens – so wird Demokratie nicht unterstützt. Um den Terrorismus zu bekämpfen? Vielleicht. Aber in diesem Fall müssen alle Folgen durchdacht werden. Die Amerikaner haben das vor dem Krieg im Irak nicht getan und müssen die Suppe jetzt auslöffeln. In der Situation mit der GUS befinden wir uns in einer vorteilhafteren Lage – befinden sich doch die russischen Militärstützpunkte und Objekte in der Nähe unserer Grenzen. Auch deshalb sehen unsere Interessen in der GUS ausreichend legitim aus. Die USA haben "ihr" Lateinamerika, "ihr" Kanada. Wieso sollte Russland nicht "seine" GUS haben?

Generaloberst Leonid Iwaschow, Vizepräsident der Akademie für geopolitische Probleme:

Unsere Militärpräsenz in der GUS ist natürlich notwendig. Es ist jedoch dumm, davon auszugehen, dass wir mit Militärstützpunkten oder –objekten die NATO oder die USA einschüchtern könnten. Russland ist nicht so stark, um sogar in unserer allernächsten Nähe denen zu widerstehen. Deshalb hat es meiner Meinung nach keinen Sinn, den Knüppel zu schwingen und von der Möglichkeit zu sprechen, Präventivschläge zu führen. Ich bin gegen die Lösung von Problemen durch Drohungen oder, Gott bewahre, Schläge.

Im Streit um den Einfluss in der GUS sollten wir uns nicht auf Gewalt, sondern den Einfluss verlassen, den Russland immer noch in der GUS hat, darunter dank den 20 Millionen Landsleuten, die dort leben. Die militärische Präsenz kann lediglich als Element der Gesamtpolitik Russlands betrachtet werden. Nicht das schwächste Element, aber eines, das gestärkt werden muss. Möglichkeiten dafür sind vorhanden. So wurde z.B. das 1999 unterzeichnete Abkommen mit Usbekistan immer noch nicht umgesetzt, das Islam Karimow als militärstrategische Union bezeichnet hatte. Gemäß diesem Dokument können wir in Usbekistan unsere Einheiten stationieren.

Ich wiederhole: Im Spiel mit den USA und der NATO um die Einflusssphären in der GUS sollte Russland nicht auf die "Militärkarte" setzen. Diese Politik würde gegen uns arbeiten. Die USA versuchen bereits, Russland aus Zentralasien zu verdrängen, und sind bereit, das unter anderem auch mit militärischen Methoden zu tun. (...)

Aleksandr Pikajew, Mitglied des wissenschaftlichen Rates des Moskauer Carnegie-Zentrums:

Mit Hilfe unserer Stützpunkte in der GUS kann funktechnische Aufklärung betrieben werden, vor einem Raketenangriff gewarnt werden, die Truppen von einem Kriegsschauplatz auf einen anderen verlegt werden. Es kann, mit anderen Worten, rechtzeitig auf Gefahren reagiert werden, noch bevor diese an den russischen Grenzen auftauchen. Sollten wir jedoch vorhaben, unsere Probleme durch Präventivschläge zu lösen, erübrigt sich die Notwendigkeit, Truppen in der GUS zu stationieren. Mit Präventivschlägen muss sowieso sehr vorsichtig umgegangen werden.

Kann Russland den amerikanischen Truppen oder den NATO-Einheiten Präventivschläge versetzen, die in der GUS stationiert sind? Wahrscheinlich nicht. Obwohl ein Militärkonflikt mit dem Block real ist. (...) Eigentlich bin ich sicher, dass es zu keinem direkten Zusammenstoß kommen wird. In der GUS sind unsere Positionen heute stärker als die der Amerikaner. Die USA verstehen das. (lr)