"Die Ukraine ist gut beraten, wenn sie sich an Europa orientiert"
5. Februar 2004Anzeige
Bonn, 5.2.2004, DW-RADIO / Ukrainisch, Ute Schaeffer
Frage:
Das Jahr 2004 verspricht für die deutsch-ukrainischen Beziehungen ein ereignisreiches Jahr zu werden. Im Februar gibt es ein Regierungstreffen zwischen Deutschland und der Ukraine, und im Herbst wird in der Ukraine ein neuer Präsident gewählt. Was steht in diesem Jahr auf der Agenda der deutsch-ukrainischen Parlamentariergruppe?Hoffmann:
Zu den Themen gehört vor allem die Erweiterung der parlamentarischen Beziehungen zwischen deutschen und ukrainischen Parlamentariern. Ich möchte insgesamt, nicht nur für die Dauer dieses Jahres, sondern für die gesamte Legislaturperiode erreichen, dass ein so wichtiges Land wie die Ukraine auch unter uns Parlamentariern einen entsprechenden Platz im Bewusstsein einnimmt.Frage:
Welchen Platz nimmt denn die Ukraine heute im Bewusstsein der Parlamentarier und auch der breiten deutschen Öffentlichkeit ein?Hoffmann:
Ich denke, dass die Ukraine eine sehr kleine Rolle spielt in unserem Bewusstsein. Das Land ist wenig bekannt, weil es lange als "Sowjetunion" galt. Ich denke allerdings, dass die Ukraine als neuer Nachbar der Europäischen Union, ein Land mit 50 Millionen Einwohnern, ein Land, das viele Bodenschätze hat, ein Land, das Transitland für Öl und Gas ist, von großer Bedeutung ist. Und je stabiler die Situation in diesem Land ist, umso stabiler ist unsere Außengrenze. Unsere Medien neigen leider Gottes sehr dazu, Aktion und Sensationen zu verbreiten. Und wir neigen sehr schnell dazu, eine Verhaftung oder Ermordung eines Journalisten als Hauptargument gegen das Land zu nehmen. Ich möchte nicht, dass wir uns falsch verstehen, darüber müssen wir reden. Wir müssen darauf achten, dass in den Ländern, die zum Europarat gehören, Menschenrechte eingehalten werden - auch in der Ukraine.Frage:
Mit den Investitionen in der Ukraine, da hapert es noch, obwohl das Wachstum des Bruttoinlandsproduktes beachtlich ist. Es liegt bei mehr als fünf Prozent für das vergangene Jahr. Was sind die Gründe für das Zögern der deutschen Investoren, und wie versucht die Parlamentariergruppe da Dynamik hineinzubringen?Hoffmann:
Eines der wichtigsten Themen, aber auch ein sehr schwieriges Thema, vor allen Dingen für die rot-grüne Bundesregierung, ist die Energiepolitik und Atompolitik. Die Ukraine hat fünf Atomkraftwerke, alle diese fünf Atomkraftwerke sind reperaturbedürftig und brauchen unsere Technologien, unsere Innovation, und das ist, politisch gesehen natürlich ein sehr schwieriges Pflaster. Vor allen Dingen ostdeutsche Unternehmen kommen gerne in die Ukraine. Bremsend - was die Investitionen deutscher Unternehmen in der Ukraine und auf den osteuropäischen Märkten insgesamt angeht - ist die fehlende Rechtssicherheit. In den dort entstehenden demokratischen Ländern ändert sich die Gesetzgebung sehr schnell. Dadurch entsteht Unsicherheit, wenn ich heute mit meinen Investitionen in das Land komme. Welche Gesetzgebung wird morgen, übermorgen und in einem Jahr sein? Andererseits denke ich aber auch, dass die deutschen Unternehmen zu vorsichtig sind.Frage:
Meine nächste Frage zielt auf die konkrete Arbeit der Parlamentarier-Gruppe: Mit welchen Anliegen kommen denn die ukrainischen Kollegen zu Ihnen? Was sind die allerwichtigsten Fragen, die den ukrainischen Abgeordneten auf den Fingern brennen?Hoffmann:
Mit fast jedem Thema. Auch mit Themen, die in unserem föderalen System nicht auf Bundesebene entschieden werden, zum Beispiel Bildung, schulische Bildung. Ein brennender Punkt in der Ukraine ist die soziale Absicherung der Bevölkerung: Rente, Gesundheitssystem, Wirtschaftsförderung. Auch die Mittelstandsförderung und der Mittelstand entwickeln sich sehr, sehr schleppend und im Wesentlichen im Dienstleistungsbereich, nicht im produzierenden Bereich. Und da sind natürlich auch die Fragen, die wir miteinander besprechen. Dazu kommt natürlich die große Frage der Umstrukturierung der Armee sowie Energiefragen.Frage:
In der letzten Amtszeit von Leonid Kutschma hatte man den Eindruck, dass sich die Ukraine stärker an Russland orientiert, obwohl sie gleichzeitig immer wieder eine vollständige Mitgliedschaft in der Europäischen Union zum außenpolitischen Ziel erklärt. Wie würden Sie das Verhältnis zwischen der Eurasischen Union und der Ukraine zur Zeit charakterisieren?Hoffmann:
Was die Frage Ukraine und Europa angeht, so bin ich davon überzeugt, dass wir keine Ratschläge geben sollten. Sehr bemerkenswert war für mich, als ich in Kiew mit Herrn Oleksandr Moros (Vorsitzender der Sozialdemokratischen Partei) gesprochen habe. Das war gerade in der Zeit, als die Gründung des "Gemeinsamen Wirtschaftsraums" (EEP) zwischen Russland, Weißrussland, Kasachstan und Ukraine beschlossen wurde im Parlament. Die Partei von Moros hatte da zugestimmt, obwohl sie der Opposition angehört. Und ich habe ihn daraufhin gefragt: "Ist das jetzt ein Ruck in Richtung Russland? Schneiden sie sich von Europa ein bisschen ab? Tendiert Ihr Land nun mehr zu Russland oder mehr zu Europa?" Moros hat mir geantwortet: "Frau Hoffmann, wir sollen weder links noch rechts gehen; wir sollen nach oben gehen." Und das hat mir eigentlich gut gefallen. Die Ukraine muss sich zunächst selbst festigen. Das Land ist noch nicht so weit, dass wir überhaupt darüber reden sollten, ob nach Europa oder nicht. Aber natürlich muss die Ukraine auch über Weitsicht verfügen und sich darüber klar werden, welches politische System sie annehmen will. Und ich glaube, sie ist gut beraten, wenn sie sich an Europa orientiert. (lr)Anzeige