"Die Regierungspartei ist nicht am Schutz der Meinungsfreiheit interessiert"
24. September 2003Moskau, 23.9.2003, NESAWISSIMAJA GASETA, NOWYJE ISWESTIJA
NESAWISSIMAJA GASETA, russ., 23.9.2003, Iwan Rodin
In dieser Woche wird beim Verfassungsgericht der Russischen Föderation eine weitere Anfrage eingereicht, die mit den Einschränkungen der Medientätigkeit während der Wahlkampagne in Zusammenhang steht, die es in der russischen Gesetzgebung gibt. Auf Initiative des Verbandes rechter Kräfte fechten fast 100 Abgeordnete einige Bestimmungen des Gesetzes "Über die wichtigsten Wahlrechtsgarantien" an. Unter den Appell haben bereits 96 Abgeordnete ihre Unterschriften gesetzt - mehr als erforderlich.
In einer gestern (22.9.) veröffentlichten Erklärung des Vorsitzenden des Verbandes rechter Kräfte Boris Nemzow heißt es, dass "von der Manipulation der öffentlichen Meinung, die eigentlich eine Zensur ist, die für die Dauer des Wahlkampfes eingeführt wurde, lediglich die Bürokraten von der Partei ‚Einheitliches Russland‘ profitieren". Nicht von ungefähr, so Nemzow, weigerten die sich, den Appell an das Gericht zu unterzeichnen: "Die Vertreter der Machtpartei, die nach Begriffen und nicht nach dem Gesetz leben, die über kolossale administrative Ressourcen verfügen, die Druck auf die Massenmedien ausüben, sind nicht am Schutz der Meinungsfreiheit und dem Schutz der Rechte der Journalisten auf Zugang zur Information interessiert." Diese Tatsache, befürchten die Verfasser der Anfrage, könnte die tatsächliche Sachlage in Russland und die politische Landschaft nach den Wahlen stark verzerren.
Sollten die Abgeordneten siegen, so werden nicht so sehr die künftigen landesweiten Wahlen als vielmehr die verschiedenen regionalen und lokalen Wahlkampagnen unter ganz anderen Voraussetzungen stattfinden. Während der letzten kommt es, wie bekannt, zu "Wundern" des Voluntarismus und der voreingenommenen Auslegung von Gesetzesartikeln, bei denen es um die Agitation vor den Wahlen geht.
Der erste stellvertretende Vorsitzende der Duma-Fraktion Verband rechter Kräfte, Boris Nadeschdin, erinnerte gestern daran, dass seine Partei von Anfang an um eine klarere gesetzliche Verankerung des Begriffes "Agitation" und gegen die Bestrafung der Medien für die Wahrnehmung ihrer unmittelbaren Pflichten kämpfte. Den Rechten ist es jedoch so auch nicht gelungen, die zentristische Mehrheit der unteren Kammer zu überzeugen, dass klarere Formulierungen notwendig sind und dass die Verhängung harter Sanktionen gegen die Massenmedien wegen der Verletzung der Gesetzesbestimmungen, die eine freie Auslegung erlauben, äußerst gefährlich ist. Boris Nadeschdin betonte, dass die Einschränkungen für die Medien für die Dauer der Wahlkampagne für eine Art Zensur gehalten werden können, da Wahlen in unserem Land ständig stattfinden, wenn nicht landesweite so regionale oder lokale, wenn nicht in die legislativen Machtorgane so in die exekutiven. Der Abgeordnete verwies darauf, dass die strengen Gesetze je nach Laune angewandt werden. Bei der Berichterstattung über die Tätigkeit der Machtpartei oder der Kandidaten, die den Machthabern genehm sind, wird das Gesetz nicht angewandt. Anschauliche Beispiele dafür seien die Wahlen in Sankt Petersburg und der letzte Kongress der Partei "Einheitliches Russland".
Unter die Anfrage an das Verfassungsgericht setzten ihre Unterschriften hauptsächlich Abgeordnete der rechten und der linken Fraktionen, einige Mitglieder der LDPR-Fraktion, der Abgeordnetengruppen "Regionen Russlands" und "Volksabgeordneter". Die Duma-Merhheit wollte sich nicht an dieser Sache beteiligen, was, so Nadeschdin, "die Initiatoren des Dokumentes davon abgehalten hat, das Dokument zur Abstimmung vorzulegen". Das Papier wird im Namen einer Gruppe von Abgeordneten an das Verfassungsgericht gerichtet. Und das bedeutet, dass es in der Iljinka-Straße (Sitz des Verfassungsgerichtes – MD) nicht vorrangig behandelt wird. (...) (lr)
NOWYJE ISWESTIJA, russ., 23.9.2003, Aleksandr Schelenin
Das geltende Gesetz über die Massenmedien "hat die öffentliche Meinung eingeschränkt", die administrativen Ressourcen aber nicht, erklärte die bekannte Menschenrechtlerin und Vorsitzende der Moskauer Helsinki-Gruppe Ljudmila Aleksejewa gestern (22.9.) in der Staatsduma.
"Das neue Gesetz über die Arbeit der Massenmedien während der Wahlen hindert die Massenmedien daran, über die Wahlsituation zu berichten. Wir können, Gott sei dank, egal was darüber sagen, da das Gesetz sich nicht auf Bürger erstreckt, aber die Massenmedien widerspiegeln nicht das, was wir sagen. Infolge dieses Gesetzes werden die Wahlen zur Fiktion", so Frau Aleksejewa.
(...) Die Menschenrechtssituation hat sich nach Ansicht der Menschenrechtler in den letzten Jahren nicht verbessert, sie verschlechtert sich eher. Die Vorsitzende der Moskauer Helsinki-Gruppe ist der Ansicht, dass "bei uns das ohnehin schon niedrige Niveau der politischen und bürgerlichen Rechte sinkt".
In einem Sonderbericht des Menschenrechtsbeauftragten der Russischen Föderation Oleg Mironow, der der Duma vorgestellt wurde, werden unter anderem einige Fälle von Einweisungen gesunder Menschen in Psychiatrien angeführt. Jetzt würden auf diese Weise allerdings weniger politische als alltägliche und wirtschaftliche Probleme gelöst. Denjenigen, denen eine Zwangsjacke angelegt wurde, geht es deshalb jedoch nicht besser. Massenhaft würden weiterhin die Menschenrechte in Tschetschenien verletzt. Im Bericht von Oleg Mironow werden die Verletzungen der Persönlichkeitsrechte in Tschetschenien als "massenhaft und systematisch" bezeichnet, es werden Dutzende Beispiele angeführt, bei denen Personen während so genannter "Säuberungen" verschwanden.
Auf eine Frage von "Nowyje iswestija" erklärte Oleg Mironow auch, dass er "mit unseren Wahlgesetzen nicht zufrieden" sei. "Das Gesetz muss" seiner Meinung nach "stabil sein, dann wird es effektiv greifen". Ferner sei "die jetzige Wahlgesetzgebung" nach Ansicht des Menschenrechtsbeauftragten "kein Gesetz, sondern eine Anleitung für die Wahlen, die Möglichkeiten stark einschränkt, darunter auch die der Massenmedien". Deshalb sei sowohl die Situation der Massenmedien als auch die eines jeden Bürgers bei diesen Wahlen sehr kompliziert. "Welche Freiheit der Massenmedien kann es geben, wenn die Journalisten nicht berechtigt sind, sich über den einen oder anderen Kandidaten zu äußern? Ich bin der Ansicht, dass das eine Einschränkung der Meinungsfreiheit ist, die nicht in den Begriff 'demokratischer Staat' passt", unterstrich der Menschenrechtsbeauftragte. (lr)