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Die Jugend bei Bundestagswahlen: ziemlich unberechenbar

28. Februar 2025

Fast die Hälfte der 18- bis 24-Jährigen in Deutschland wählte links oder die AfD. Bei der Wahl 2021 hatten noch Grüne und FDP die Nase vorn. Was bewegt junge Menschen?

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Auf den Türmen des Berliner Reichstagsgebäudes, in dem der Deutsche Bundestag seinen Sitz hat, wehen im Abendlicht schwarz-rot-goldene Deutschland-Fahnen. Die gläserne und begehbare Kuppel ist hell erleuchtet.
Auch junge Wählerinnen und Wähler haben dafür gesorgt, das die Linke und die AfD im Deutschen Bundestag stärker vertreten sind Bild: Jörg Carstensen/dpa/picture alliance

Alle staunen über den Erfolg der Linken bei der Bundestagswahl 2025: Mit knapp neun Prozent hat die Partei ihr Ergebnis gegenüber 2021 fast verdoppelt. Dafür hat auch die Altersgruppe der 18- bis 24-jährigen Deutschen gesorgt, in der 25 Prozent für sie gestimmt haben. Wie dieses Votum zu erklären ist, fragt sich auch der Politikwissenschaftler Antonios Souris von der Freien Universität Berlin.

Für abschließende Antworten ist es aus seiner Sicht noch zu früh, aber Anhaltspunkte gebe es natürlich: "Man hat ja auch die Kandidaten, die das Wahlprogramm verkörpern", sagt Souris im Interview mit der Deutschen Welle. Damit meint er Linke wie die Spitzenkandidatin Heidi Reichinnek. Oder Ferat Koçak, der im migrantisch geprägten Berliner Wahlkreis Neukölln überraschend das Direktmandat gewonnen hat.

Die Linke hatte offenbar das richtige Gespür für Themen

Beide haben im Wahlkampf offenbar den richtigen Ton getroffen und auf Themen gesetzt, die für viele junge Menschen besonders wichtig sind: bezahlbarer Wohnraum, bessere Bildung, soziale Gerechtigkeit. Auch mit ihrem Engagement gegen Rassismus haben Reichinnek und Koçak, aber auch viele andere in der Partei anscheinend gepunktet.

Politik-Experte Souris verweist zudem auf den zweigleisigen Wahlkampf: tausende Haustür-Besuche und eine erfolgreiche Kampagne auf Plattformen wie "X" und "TikTok". Mit ihrer Social Media-Offensive ist der Linken ein besonderer Coup gelungen, denn der digitale Raum war bislang die Domäne der Alternative für Deutschland (AfD).

Die AfD war schon bei der Europawahl erfolgreich

Auch die Rechtsaußen-Partei war bei jugendlichen Wählerinnen und Wählern bis 24 Jahre erfolgreich und landete mit 21 Prozent direkt hinter der Linken. Bemerkenswert ist der Vergleich mit der Europawahl im Juni 2024: Die vom Verfassungsschutz als teilweise rechtsextrem eingestufte AfD hatte in der jungen Wählerschaft mit 16 Prozent schon damals viel Zuspruch, während sich die Linke mit sechs Prozent begnügen musste.

Seit der Europawahl vor acht Monaten haben beide Parteien massiv zugelegt: Die AfD steigerte ihr Ergebnis um knapp ein Drittel, die Linke hat ihres mehr als vervierfacht. So viele Stimmen haben beide Parteien noch nie von dieser Altersgruppe bekommen. Allerdings seien Jüngere schon immer empfänglicher für die politischen Ränder gewesen, sagt Rüdiger Maas vom Augsburger Institut für Generationenforschung.

Junge Männer ticken stärker rechts als junge Frauen

"Sie wünschen sich noch stärker Veränderung als ältere Wähler", begründet Maas seine Beobachtung im Nachrichtenmagazin "Spiegel". Wenn man als junger Mensch ein Problem mit der derzeitigen Lage habe, wende man sich eher an die Opposition. 

Maas und sein Team haben im Januar rund 4000 Menschen für ihre Jugendwahlstudie befragt, unter anderem zu ihren Ängsten und Sorgen. "Dabei hat sich gezeigt, dass sie viel ängstlicher sind als die Gesamtbevölkerung."

Jung und radikal: Warum die Rechtspopulisten im Aufwind sind

Auffällig sind die Unterschiede zwischen den Geschlechtern: Junge Männer hätten Angst vor Migration und finanziellem Abstieg, hier verspreche die AfD Lösungen, sagt der Forscher. "Junge Frauen haben eher Angst vor Rechtspopulismus und davor, dass Feminismus und Diversität infrage gestellt werden - deshalb auch der Erfolg der Linken."

Grüne und FDP wurden in der Regierung unattraktiv

Bei der Bundestagswahl 2021 hatten noch zwei andere Parteien die Nase vorn: Grüne mit 23 Prozent und Freie Demokraten (FDP) mit 21 Prozent. Knapp vier Jahre später sind sie bei den 18- bis 24-Jähringen abgestürzt auf zehn und fünf Prozent.

Politik-Experte Antonios Souris über die Linke: "Sie waren ein bisschen der Underdog"

Der Politologe Antonios Souris erklärt sich das unter anderem damit, dass beide als Regierungsparteien zahlreiche Kompromisse eingehen mussten.

Aber auch der Zeitgeist hat sich offenbar verändert. In den letzten Jahren sei durch die Medien gegeistert, dass die junge Generation nur noch grün wähle.

Souris hat das Bild noch vor Augen: "Dass die jungen Leute nur noch Vegetarierinnen und Vegetarier sind oder Veganerinnen und Veganer, dass sie bei 'Fridays for Future' mitlaufen." Damit sei ein bestimmter Typus konstruiert worden, der der Realität nicht standgehalten habe, sagt Souris.

"Neoliberales Gedankengut bei der AfD gefunden"

Deutlich verändert hat sich auch das Image der FDP. Bei der Bundestagswahl 2021 hatte die Partei unter Jüngeren hoch im Kurs gestanden. Dieses Mal war sie chancenlos und flog sogar aus dem Parlament. Der Generationenforscher Rüdiger Maas meint, den Freien Demokraten habe es in der Regierung an Profil gemangelt. Die Folge: "Neoliberales Gedankengut haben viele dieses Mal eher bei der AfD gefunden."

Hinweise darauf, welche Motive für junge Menschen wahlentscheidend sein könnten, liefern auch regelmäßige Befragungen. Ein Klassiker ist die seit 1953 durchgeführte Shell-Jugendstudie. Die letzte wurde im Oktober 2024 erstellt, vier Monate vor der Bundestagswahl. Rund 2500 Kinder und junge Erwachsene bis 25 Jahre haben sich an der Befragung beteiligt.

Krieg, Armut, Umweltverschmutzung, Klimawandel, Zuwanderung

Bei der Frage nach ihren größten Ängsten landeten "Krieg in Europa" (81 Prozent) und "Armut" (67) ganz vorne. Auch der Klimawandel (63) wird fast unverändert hoch als Bedrohung empfunden. Es sind Themen, die bei der Linken im Fokus stehen. "Ausländerfeindlichkeit" rangiert mit 58 Prozent im Mittelfeld. Am Ende der Skala findet sich mit 34 Prozent "Zuwanderung nach Deutschland", die von der AfD weitgehend abgelehnt wird.

Warum genau die Parteien am rechten und linken Rand von der jüngsten Altersgruppe fast die Hälfte der Stimmen bekommen hat, dafür fehlen wenige Tage nach der Bundestagswahl tiefergehende Analysen. "Wir können wissenschaftlich fundiert natürlich noch keine wirklichen Aussagen treffen", betont der Berliner Politik-Fachmann Antonios Souris.

Die junge Generation wird politischer

Eines aber zeichnet sich schon länger ab: dass die junge Generation mehr denn je an Politik interessiert ist.

Laut aktueller Shell-Jugendstudie trifft das auf die Hälfte aller jungen Menschen in Deutschland zu. Kurz nach der Jahrtausendwende waren es lediglich 30 Prozent. Auch die Zahl derjenigen, die sich informieren und die sich engagieren wollen, steigt seit Jahren.

Deutsche Welle Marcel Fürstenau Kommentarbild ohne Mikrofon
Marcel Fürstenau Autor und Reporter für Politik & Zeitgeschichte - Schwerpunkt: Deutschland