"Die einzige funktionierende Institution der Demokratie"
16. August 2004Moskau, 16.8.2004, NOWYJE ISWESTIJA, INTERFAX
NOWYJE ISWESTIJA, russ., 16.8.2004, Schagen Ogadschanjan
Die zweite Amtszeit von Präsident Wladimir Putin zählte letzten Freitag (13.8.) 100 Tage. Aus diesem Anlass kamen in Moskau bekannte Politologen und Soziologen zusammen, die Bilanz dieser 100 Tage zogen. Kritisiert wurde der Präsident überhaupt nicht. Die Experten lobten ihn nur. Geschimpft wurde hauptsächlich auf die Umgebung der Kreml-Herren.
Wie sich herausstellte, gefällt den Politologen hauptsächlich die Außenpolitik des Präsidenten. Der Chef von gleich zwei Fonds – "Einheit im Namen Russlands" und "Politika" – Wjatscheslaw Nikonow konstatierte, dass sich bei Russland im internationalen Plan in den letzten Jahren, die letzten 100 Tage eingenommen, alles "aufsteigend entwickelte". Praktisch in allen Richtungen. Lediglich zu einem Land hätten sich die Beziehungen verschlechtert – zu Belarus. Berücksichtigt man Nikonow zufolge die öffentliche Meinung im Ausland, so ist Wladimir Putin als Politiker heute in der Weltgemeinschaft angesehener als, sagen wir, Bush, Blair, Chirac oder Schröder. Der stellvertretende Vorsitzende des Zentrums für politische Technologien, Boris Makarenko, präzisierte, die Umfragen der Soziologen würden davon zeugen, dass das Volk die Politik von Putin billigt.
Was die Innenpolitik betrifft, so kritisierte Michail Deljagin, der Direktor des Institutes für Modernisierung und Mitglied des Politrates der Partei "Rodina", sie als erster. Er bedauerte, dass zusammen mit Putin Leute an die Macht kamen, die sich für die Anwendung der standardmäßigen, sieben Jahre alten liberalen Rezepte entschieden haben (Tschubajs schaffte es damals nicht, sie umzusetzen). Der Wirtschaftswissenschaftler bemerkte, dass die Präsidenten-Mannschaft im Endeffekt "alles liberalisieren könnte, was sich noch bewegt". Dabei "ist den Machthabern Sicherheit garantiert", weil die Gesellschaft eingeschüchtert ist und die Massenmedien unter Kontrolle stehen. Herr Deljagin schlussfolgerte: "Die wichtigste schlechte Nachricht dieser 100 Tage besteht darin, dass den Leuten gar nicht das versprochen wurde. Die wichtigste gute Nachricht besteht darin, dass das den Leuten aufgefallen ist."
Herr Pawlowskij, der Chef des Fonds für effektive Politik, lobte Herrn Putin wegen der "klaren Prioritäten", kritisierte jedoch ebenfalls scharf das Präsidentengefolge. "Bei uns hat sich eine strategische ‚Schere‘ angedeutet. Praktisch alle Reformen, die im munizipalen, finanziellen, wirtschaftlichen und administrativen Bereich eingeleitet wurden, haben etwas mit der Erhöhung der wirtschaftlichen, politischen und sozialen Aktivität der Leute zu tun. Unser ganzes politisches System bewegt sich jedoch heute in die andere Richtung", so der Politologe. Herr Pawlowskij sagte um so mehr, dass "sich bei uns ein Riss zwischen dem Präsidenten als praktisch einzigem Zentrum, das Initiativen ans Licht bringt, und den Bürgern angedeutet hat. Dieser Raum wird von einer endlosen Zahl von ‚Zwischenschichten‘ gefüllt, Schattensubjekten, die bestrebt sind, eine eigene Rolle zu spielen". Mit diesen Vermittlern müsste man, Pawlowskij zufolge, in erster Linie Klarheit schaffen. (...) Gleb Pawlowskij bemerkte ferner, dass diese "Schattenklasse" aktiver wird, je näher der nächste Wahlzyklus rückt. Herr Putin sei "die einzige funktionierende Institution der Demokratie". (...) (lr)
INTERFAX, russ., 13.8.2004
Die ersten 100 Tage der zweiten Amtszeit des Präsidenten Russlands, Wladimir Putin, haben gezeigt, dass er "eine liberalere und prowestlichere Figur ist, als 90 Prozent der russischen Elite und Bürger". Dieser Meinung ist der Chef des Fonds "Politika", Wjatscheslaw Nikonow. Zu den positiven Momenten der zweiten Amtszeit von Wladimir Putin gehören ihm zufolge die stärkere Aktivität der Regierung und mehr Mut bei der Durchführung von Reformen, die nach Meinung des Politologen die russische Wirtschaft dem europäischen Modell näher bringen werden. (...) Wjatscheslaw Nikonow erinnerte daran, dass die zweite Amtszeit des Präsidenten als "wirtschaftlicher" angekündigt wurde und bereits vor den Wahlen begann, als der Beschluss über die Entlassung von Michail Kassjanow und die Bildung einer neuen Mannschaft gefasst wurde, die stark darauf orientiert ist, Russland Richtung europäisches Modell zu bewegen. Als wichtige Initiativen, mit deren Realisierung in den ersten 100 Tagen der zweiten Amtszeit begonnen wurde, bezeichnete Wjatscheslaw Nikonow die administrative Reform – "ein chirurgischer Eingriff in die russische Bürokratie" – sowie die Reform des Vergünstigungssystems (...). Gleichzeitig richtete Wjatscheslaw Nikonow die Aufmerksamkeit auf die Fehler, die die Staatsführung seiner Meinung nach berichtigen sollte. Negative Folgen könnte seiner Meinung nach die Situation um Jukos haben. Ernste Schritte sollten bei der Bekämpfung der Korruption und der Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft ergriffen werden. (...) (lr)