Die Bundeswehr im Krieg? Militärseelsorge und der Ernstfall
7. September 2025Da redet Bischof Bernhard Felmberg acht oder zehn Minuten. Mit Verve und Wortspielen. Schließlich sagt er: "Und nun dürfen Sie alles fragen. Feuer frei!" Niemand meldet sich.
Felmberg ist der evangelische Militärbischof bei der Bundeswehr. Vor ihm sitzen in den "Baltic Barracks", einem NATO-Stützpunkt am Rande von Stettin, gut 30 Soldatinnen und Soldaten der deutschen Bundeswehr. Seit über 25 Jahren gibt es hier im Nordwesten Polens ein dauerhaft präsentes NATO-Hauptquartier, in dem stets auch deutsche Soldaten stationiert sind. Felmberg besucht oft Auslandsstandorte der Bundeswehr.
Als sich nun niemand meldet, bleibt der 60-Jährige, der seit Jahrzehnten Ansprachen hält oder predigt, locker. Er legt 30 Sekunden nach. Dann kommen Fragen, die erste, die zweite, die dritte. Denn Fragen sind da.
Die neuen Spannungen in Europa und die wachsende russische Bedrohung, der blutige Krieg Putins gegen die Ukraine. Was die Fernsehnachrichten jeden Tag erörtern und die Zeitungen berichten, hat Auswirkungen auf so viele Bereiche. Die Koalition will den Wehrdienst modernisieren, die Regierung brachte dafür einen Gesetzentwurf auf den Weg. Die Bundeswehr geht mit 5000 Soldaten nach Litauen. Es braucht mehr Soldaten und mehr Gerät. Zigmilliarden Euro stehen bereit. Was immer es kostet, sagt Bundeskanzler Friedrich Merz.
"Kriegstüchtig" soll die Bundeswehr werden
Deutschland, sagte Verteidigungsminister Boris Pistorius einmal, müsse "kriegstüchtig" werden. Das hat viele Aspekte. Und bereitet vielen Sorgen. Einrichtungen der Zivilgesellschaft wie das Technische Hilfswerk (THW) oder Krankenhäuser positionieren sich neu. Städte und Gemeinden überprüfen Lager-Bestände. Statiker prüfen Brücken. Es gibt einen nicht öffentlichen "Operationsplan Deutschland", der festhält, was alles anders sein muss, falls es mal ernst wird in Deutschland.
Eben auch bei der Militärseelsorge. Die evangelische und die katholische Kirche befassen sich längst mit dem Thema; auch der jüdische Militärbundesrabbiner. Drei oberste Geistliche sind gefragt bei dem Thema: Felmberg, sein katholisches Pendant Bischof Franz-Josef Overbeck (61) und Rabbiner Zsolt Balla (46).
Alle drei kümmern sich um viele Aspekte des Soldatenlebens. Ihre Besuche bei der Truppe gelten auch den Sorgen und Nöten der Einsatzkräfte. Felmberg verwies im Sommer nach einem Besuch des Bundeswehr-Krankenhauses in Berlin beispielsweise auf die Herausforderung der Posttraumatischen Belastungsstörungen, die Soldaten und damit auch der Bundeswehr zu schaffen machen. Da seien Seelsorger ähnlich gefragt wie Psychologen. Sie seien stets "Ansprechpartner jenseits der Hierarchie".
Auf den Ernstfall vorbereitet sein
Felmberg verwies schon vor Monaten auf Berechnungen, wonach die Bundeswehr im Kriegsfall pro Tag mit 500 bis 600 Gefallenen oder Verwundeten rechnen müsse. Wenn er das dann runterbricht auf Eisenbahnzüge mit Verwundeten und Anforderungen im gesamten Land, wirkt es so, als wolle der Geistliche seine Kirche und die Kirchen wachrütteln, auch kirchliche Kliniken und Verbände.
Auch in Stettin ist das zäh begonnene Gespräch bald lebhaft und ernst. Ein Soldat erwähnt, er sei ja aus der Kirche ausgetreten, aber bei der Beisetzung seiner Großmutter kürzlich ins Nachdenken über das Thema Tod gekommen. Ein Offizier betont die ethischen Abwägungen, die auf die Soldatinnen und Soldaten zukämen. Auch darauf würden sie von den Militärseelsorgern vorbereitet.
Ob beim Gespräch in großer Runde oder später beim Mittagessen zwischen den Soldaten in der Kantine oder in Einzelgesprächen: Felmberg ist gefragt. Wie sehr, das zeigte ein Termin Mitte Juli in Berlin. Da feierte der Militärbischof, der selbst nie Soldat war, bei einer Andacht in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche in Berlin, seinen 60. Geburtstag. Neben der Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche in Deutschland, Kirsten Fehrs (63), sprach in der Kirche auch der höchste deutsche Soldat, Generalinspekteur Carsten Breuer.
Breuer, selbst Katholik und gleich alt wie der Geistliche, würdigte diesen als "Macher" und "echten Insider" der Bundeswehr, als "Leuchtturm". Felmberg, den der Generalinspekteur wiederholt "unser Bischof" nannte, sei es ein großes Anliegen, auch seine Kirche "auf die Möglichkeit der Landes- und Bündnisverteidigung vorzubereiten". Er gehe dabei die Dinge "praktisch und handfest" an und habe letztlich den "Operationsplan Deutschland" der Politik zu einem "Geistlichen Operationsplan Deutschland" ausgeweitet.
Ausdrücklich würdigte und dankte Breuer dem Bischof dafür, dass am vierten Adventssonntag 2024 der evangelische Sonntagsgottesdienst im Zweiten Deutschen Fernsehen (ZDF) live aus Litauen übertragen worden sei. So hätten Millionen Deutsche gesehen, dass längst deutsche Soldaten im Baltikum stationiert seien. Und sie hätten verstanden, was das heiße.
Bereits im Februar 2022 war Breuer, der sich während seiner Ausbildung an der Universität der Bundeswehr in Hamburg in der katholischen Studentengemeinde engagierte, für einige Stunden zu Gast bei der Frühjahrsvollversammlung der katholischen deutschen Bischöfe. Hinterher sprach er von einer intensiven Diskussion darüber, welche Auswirkungen der russische Angriff auf die Ukraine habe, über die Frage "Krieg oder Frieden", darüber, dass man "neue Antworten auf alte Fragen geben" müsse. Und die Bischöfe wurden nachdenklich.
"Die Freiheit verteidigen"
"Die Situation des Krieges ist uns so nah gekommen, wie wir das alle nie gedacht hätten", sagt der katholische Militärbischof Overbeck im Interview der DW. Er spricht von einem "Systemkrieg". Es sei "von größter Bedeutung, dass wir alles tun, um unser System, das für Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit steht - mit allen Folgen für das Zusammenleben der Menschen - zu stärken und zu verteidigen".
Faktisch müssten sich die Bundeswehr-Soldaten auf eine "Kriegssituation" vorbereiten. "Keiner hofft, dass das geschieht. Aber wir müssen sie vorbereiten." In einem solchen Fall würde die Militärseelsorge die Soldaten begleiten, sagt er und nennt die Geistlichen beider kirchlicher Konfessionen und von jüdischer Seite. Overbeck mahnt, die Militärseelsorge im Ernstfall nicht zu überfordern. Sie werde nicht im Stande sein, "alles managen zu können". Krieg bedeute auch Chaos.
Und Overbeck zeigt sich überzeugt, dass viele Menschen in Deutschland den Ernst der aktuellen Lage auf dem Schirm hätten. Das erfahre er bei Begegnungen mit Bundeswehr-Angehörigen wie bei "vielen sehr ernsten Gesprächsabenden" in seinem Bistum Essen: "Das alles treibt die Menschen um". Die Gespräche seien stets "verbunden mit sehr vielen Ängsten und großen Sorgen, aber eben auch mit praktischen Fragen".
Die Jüdische Militärseelsorge ist noch jung in Deutschland - und jetzt auch gefordert. Sie wurde Ende 2019 in einem Staatsvertrag der Bundesregierung mit dem Zentralrat der Juden verankert. Seit gut vier Jahren ist Zsolt Balla als Militärbundesrabbiner der Chef. Mittlerweile sieben Rabbiner in Deutschland sind als Militärrabbiner bei der Bundeswehr beschäftigt.
Man sei, sagt Balla der DW, "in der guten Situation, unsere Militärrabbiner gerade einzuarbeiten, da der Großteil relativ neu bei der Bundeswehr ist". Deshalb könne man "flexibel und schnell auf die neuen Herausforderungen reagieren" und die Militärseelsorge "bestmöglich darauf ausrichten". Die jüdischen Seelsorger würden regelmäßig gemeinsam mit christlichen Kollegen auch im "Umgang mit ernsthaftesten Krisensituationen" trainiert. Dies solle helfen, "dieser neuen Situation gerecht zu werden".
Balla engagierte sich frühzeitig dafür, dass Militärgeistliche der Bundeswehr gemeinsam mit Militärpfarrerinnen und -pfarrern und Militärrabbinern mehrerer NATO-Länder an einem von der US Air Force organisierten Training teilnehmen können. Jede und jeder einzelne, sagt er, setze sich intensiv damit auseinander, "wie wir Menschen in ihren letzten Momenten beistehen können". Der Austausch mit den internationalen Partnern sei ein wichtiger Schritt. Es gehe um Zusammenarbeit, Vernetzung, die bessere Nutzung von Ressourcen. Für Ende November organisiere das Militärrabbinat eine "Erste Internationale Militärrabbinerkonferenz" in Berlin, zu dem Seelsorger aus mehreren NATO- und Partnerländern erwartet würden.
In Stettin endet der Besuchstag von Bischof Felmberg mit einer Andacht unter freiem Himmel. Ein paar Bierbänke, keine Orgel, keine anderen Musikinstrumente. Aber wenn Felmberg kräftig singt, stimmen viele ein. "Frieden gabst du schon, Frieden muss noch werden …", lautet die letzte Liedstrophe.
Ein Versprechen gibt der Geistliche dann noch. Irgendwann am Tag erwähnt einer der Soldaten, dass ja fast nie ein deutscher Militärgeistlicher in den "Baltic Barracks" anwesend sei. Evangelische Soldaten müssten sich deshalb auf den langen Weg zum Gottesdienst in einer Kaserne auf der deutschen Seite machen, mit dem Kleinbus. Demnächst, sagt Felmberg, komme ein Geistlicher zu ihnen. Zumindest ab und an.