"Der Skandal in Sergijew Possad ist nur eine ‚Generalprobe‘"
23. Oktober 2002Im Herzen des orthodoxen Russlands, zwei Schritte vom Dreifaltigkeits-Sergios-Kloster entfernt, entsteht ein heftiger interkonfessioneller Streit. Der Bund der orthodoxen Bürger hat einen offenen Appell an den Gouverneur des Gebietes Moskau, Boris Gromow, gerichtet. Er bittet, den Bau einer Moschee in Sergijew Possad so lange zu stoppen, "wie in Tatarstan die Rechte der Christen eingeschränkt werden".
Von Sergijew Possad ist es nur ein Katzensprung bis Moskau, wo die angespannte Atmosphäre zwischen den Religionsgemeinschaften immer deutlicher zu spüren ist. In den letzten Jahren haben sich in der russischen Hauptstadt und dem Moskauer Gebiet viele Migranten aus dem Kaukasus niedergelassen, von denen sich die meisten zum Islam bekennen. Einigen Angaben zufolge werden derzeit allein etwa 1,5 Millionen Aserbaidschaner in Moskau gezählt. In der Region gibt es jedoch vorläufig nur sieben Moscheen. In der nächsten Zeit wird ihre Zahl aller Wahrscheinlichkeit nach bedeutend steigen. Dieser Prozess wird bestimmt von Zusammenstößen zwischen Vertretern des Islams und der Orthodoxie begleitet werden.
Als "Generalprobe" für diese Zusammenstöße kann der Skandal von Sergijew Possad betrachtet werden. Die lokale islamische Gemeinde versucht seit langem, Boden für den Bau einer Moschee zu bekommen (wie der Imam von Sergijew Possad Arslan Sadrijew mitteilte, finden die Gebetsstunden derzeit im Haus eines Gläubigen statt). Die Administration des Rayons hat dem jedoch immer noch nicht zugestimmt. Gegen den Bau einer Moschee sprechen sich einige orthodoxe Organisationen scharf aus, die damit unzufrieden sind, dass diese in einer Stadt errichtet werden soll, in der das Dreifaltigkeits-Sergios-Kloster liegt. Ende letzter Woche tauchte dann der Appell des Bundes der orthodoxen Bürger auf, in dem es heißt, dass der Administrationsleiter von Sergijew Possad, Wassilij Gontschar, angeblich dem Bau zugestimmt hat.
Bemerkenswert ist, dass sich der Vorsitzende des Muftirates Russlands, Rawil Gajnutdin, dem Vorsitzenden des Informations- und Forschungszentrums des Rates Farid Asadullin zufolge so lange weigert, auf die Situation einzugehen, bis die Russisch-Orthodoxe Kirche ihren Standpunkt bezüglich des Baus der Moschee und des skandalösen Appells des Bundes der orthodoxen Bürger geklärt hat. Mit anderen Worten: die russischen Moslems haben von dem Zwischenfall Gebrauch gemacht, um die Russisch-Orthodoxe Kirche endgültig zu zwingen, ihr Verhalten gegenüber Organisationen ähnlich dem Bund der orthodoxen Bürger festzulegen. Offensichtlich wird es demnächst zu Verhandlungen zwischen der Führung der Russisch-Orthodoxen Kirche und dem Muftirat Russlands kommen. Vorläufig weigert sich das Moskauer Patriarchat, wie auch der Muftirat, jedoch offiziell Stellung zu diesem Thema zu nehmen. Bei der Öffentlichkeitsabteilung des Moskauer Patriarchats wurde der "Nesawissimaja gaseta" erklärt, dass sie diesbezüglich "nur persönliche Stellungnahmen abgeben könne, nicht jedoch die offizielle Position der Russisch-Orthodoxen Kirche darstellen". (...)
Der Administrationschef des Rayons Sergijew Possad erklärte in einem Interview für die "Nesawissimaja gaseta": "Jemand hat die Ente in die Welt gesetzt, ich hätte einen Beschluss über den Bau einer Moschee gefasst. Tatsächlich gibt es jedoch gar keinen diesbezüglichen Beschluss. Das ist eine komplizierte Frage, die seit Jahren erörtert wird. Man muss sehr ausgewogen vorgehen, die Rechte der Gläubigen verschiedener Glaubensbekenntnisse sowie die Geschichte unserer Stadt berücksichtigen."
Der Bund der orthodoxen Bürger ist durch seine radikalen Ansichten bekannt, wie zum Beispiel die Proteste gegen die Ausstrahlung des Films von Scorsese "Die letzte Versuchung Christi", Streikposten vor der Vertretung des Vatikans in Moskau, Kundgebungen gegen den Besuch von Papst Johannes Paul II. in der Ukraine. Das Moskauer Patriarchat toleriert den Bund, obwohl diesem einige seiner Gegner angehören. Wie Farid Asadullin der "Nesawissimaja gaseta" jedoch erklärte, widerspiegelt der Appell des Bundes der orthodoxen Bürger nach Ansicht der russischen Moslems nicht die Position der Russisch-Orthodoxen Kirche und der meisten ihrer Mitglieder. "Ziel des Appells des Bundes der orthodoxen Bürger ist es, Zwist unter den Religionen zu schüren. Die lokale muslimische Gemeinde hat normale Beziehungen zur Leitung des Dreifaltigkeits-Sergios-Klosters aufgebaut, die Verständnis für das Bestreben der Muslime des Rayons Sergijew Possad hat, über ein Gebetshaus zu verfügen. Der Muftirat Russlands will das Vorgehen des Bundes der orthodoxen Bürger bei der nächsten Sitzung des Interreligiösen Rates Russlands diskutieren", erklärte er.
Man kann tatsächlich mit einer gewissen Überzeugung behaupten, dass religiöse Konflikte in Russland von nationalistischen Kräften wie dem Tatarischen gesellschaftlichen Zentrum und dem Bund der orthodoxen Bürger geschürt werden. Solange die Machtorgane jedoch nach einer klaren Vorgehensweise suchen, solange sie sich zwischen den Forderungen der Gesetze und Überlegungen über politische Zweckmäßigkeiten zerreißen, könnte diese unangenehme Tendenz in eine breitangelegte religiöse Konfrontation münden. Dann könnte es im bis jetzt wohlbehaltenen Moskau, das bereits einmal Angst vor einem "aserbaidschanischen Marsch" hatte, zu einem echten Krieg zwischen den Konfessionen kommen, dessen Anlass nichtig sein könnte: zum Beispiel ein Ausfall von Hooligans oder eine Protestaktion beim Bau einer neuen Moschee. (lr)