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Glaube

Der schwere Ruf der Liebe in der Gegenwart

15. März 2025

Nächstenliebe stellt sich im Alltag schwieriger dar als gedacht, zu vielseitig und komplex sind die Probleme. Doch ein Perspektivwechsel kann helfen – denn die Herausforderungen sind nicht neu.

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Deutschland Berlin | Obdachlose Person auf einer Bank im U-Bahnhof
Bild: Sabine Gudath/Imago Images

 "Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst." (Mk 12,31) Das klingt in der Bibel sehr intuitiv zugänglich: Den Armen helfen, die Ausgestoßenen mit in die Gemeinschaft nehmen, in erster Linie nett zu den anderen Menschen sein. Im Verlauf der vergangenen Wochen und den intensiven Diskussionen um den Sozialstaat und die Migrationspolitik hat mich dieser Satz Jesu wieder und wieder beschäftigt – und sich als große Herausforderung entpuppt. 

Wenn ich zum Supermarkt gehe, sehe ich auf dem Weg dorthin mehrere Obdachlose, auch ein Bettler ist darunter. Tue ich jetzt das Richtige, wenn ich einfach jedem etwas gebe, wenn ich an ihm vorbeigehe? Oder kümmere ich mich dann einfach nur um diejenigen, die mir lokal am nächsten sind, aber nicht um die, die es am meisten nötig hätten? Not, das weiß ich aus den Nachrichten, geschieht heute oft im Verborgenen. In Wohnungen, in denen nicht genug Essen für deren Bewohner vorhanden ist. In Unterkünften, zu denen ich keinen Zugang habe. In fernen Ländern, an deren Not der Westen mitschuldig ist. Daneben gibt es noch ganz andere Fälle, die meine Nächstenliebe herausfordern: Menschen, die ganz anders denken als ich, anders leben, andere Überzeugungen haben. Überzeugungen, die ich persönlich nicht teile, vielleicht auch ablehne. Was ist mit ihnen? 


Die Herausforderungen unserer Gesellschaft sind enorm und sie sind komplex. Ich habe oft die Befürchtung, den Überblick zu verlieren. Kann ich da als Einzelner Mensch überhaupt etwas tun? Und wenn ja: Was? Ist eine Art Gießkannenprinzip kontraproduktiv? Was ist der beste, der richtige Zugang? Fragen über Fragen türmen sich in meinem Geist auf. Die einfache Lösung ist dann: Den Kopf einziehen, keine Nachrichten konsumieren, mit Scheuklappen bloß nicht rechts oder links des Weges schauen – wenn man das Haus überhaupt verlässt. Das betäubt die Sinne für eine Zeit. Eine langfristige Lösung ist das nicht. 
Glücklicherweise bin ich nicht der erste in dieser Situation. Die Jünger Jesu haben sich oft erschreckt, wenn es um die doch recht hohen Maximalforderungen Jesu ging – zum Beispiel, dass kein Reicher in das Reich Gottes kommt. "Sie aber gerieten über alle Maßen außer sich vor Schrecken und sagten zueinander: Wer kann dann noch gerettet werden? Jesus sah sie an und sagte: Für Menschen ist das unmöglich, aber nicht für Gott; denn für Gott ist alles möglich." Jesus sagt ihnen: "Jeder, der um meinetwillen und um des Evangeliums willen Haus oder Brüder, Schwestern, Mutter, Vater, Kinder oder Äcker verlassen hat, wird das Hundertfache dafür empfangen." 
Diese Stelle gibt mir in zweierlei Hinsicht Zuversicht: Jesus geht es, er sagt es selbst, um ein Auf-dem-Weg-sein. Ich muss nicht alle Probleme gleichzeitig lösen. Es ist vielleicht schon ein erster Schritt, wenn ich es schaffe, sie nicht alle völlig zu ignorieren, sondern offen und zugänglich bin für die so verschiedenen Lebenssituationen und Problemlagen der Menschen auf der Welt. Das ist schon ein Wert an sich. 
Dazu kommt ein – meines Erachtens nach sehr erleichternder – Satz, den Jesus hier sagt: "Für Menschen ist das unmöglich, aber nicht für Gott; denn für Gott ist alles möglich." Dieses Sich-verlassen-können darauf, dass wir als Menschen nicht alles schaffen müssen und können, gibt mir Zuversicht. Für mich ist es kein Signal, sich in einer gewissen Lethargie auszuruhen, sondern mit offenen Augen durch die Welt zu gehen und einen Blick dafür zu haben, wo es fehlt in unserer Gesellschaft – und dies etwa durch mein Wahlverhalten oder Spenden an die richtigen Stellen auszudrücken. 
Dazu kommt eine große Dankbarkeit. Was ich alles bereits habe und genieße, gerät im Alltag oft aus dem Blickfeld. Denn auch ich gehöre zu den Menschen, die gern mal meckern, sich beschweren. Doch gerade diese Beschwernisse durch Dankbarkeit regelmäßig wieder abzuwerfen, macht frei – den Geist und den Blick. Für das Gute und das Schlechte im eigenen Umfeld. 
Nur den Kopf in den Sand zu stecken, kann nur vorübergehend ein Weg des Lebens in einer unübersichtlichen Welt sein. Auf Dauer hilft der hohe Anspruch der Nächstenliebe, den anderen Menschen zugewandt zu begegnen und damit wachsam zu sein für das, was unsere Welt prägt. Mit Offenheit und Zugewandtheit ist der erste Schritt getan, diese Welt nicht nur als Ort von Problemen, sondern als Ort der Liebe zu sehen – und ihn dazu zu machen. 
 
Zum Autor
 
Christoph Paul Hartmann wurde 1991 geboren. Er studierte Kommunikations- und Medienwissenschaft an der Universität Leipzig und ließ sich anschließend am Institut zur Förderung publizistischen Nachwuchses zum Journalisten ausbilden. Er arbeitet als Journalist, daneben schreibt er unter anderem für die Verkündigung im WDR. 2021 erschien mit "Hemmel on Ähd - Unterhaltsame Spaziergänge durch Düsseldorfs Kultur und Geschichte" (Seume) sein erstes Buch. 

Dieser Beitrag wird redaktionell von den christlichen Kirchen verantwortet.