Der Blues, der Krieg, die Gnade
31. Januar 2025Heute geht es mir nicht so gut. Der Winterblues mit seinen moll-Tönen dominiert meinen Takt. Mich nervt, dass die Welt gerade ausschließlich schlecht daherkommt und dass sie schlechtgeredet wird. Populisten wollen mir ständig klarmachen, wie schlecht unsere Welt, unsere Gesellschaft, unser Land, unser Leben geworden ist. Gewiss, es ist nicht immer dem Paradies nahe. Aber: Schauen wir doch einmal genau hin und schauen zurück. Vor genau 80 Jahren endete der Zweite Weltkrieg.
Meine Eltern haben diese Zeit erlebt und mir mehrfach davon erzählt. Sie haben noch gehungert, wussten nicht, wie und wo sie etwas zu essen auftreiben sollten. Sie sind mitten in der Nacht von Sirenen geweckt worden, sie mussten Furcht vor tödlichen Bomben und Angriffen haben. Manchmal auch tagsüber. Sie haben erlebt, dass der Papa nicht mehr aus dem Soldatendienst zurückkehrte. Ihnen wurden Vergewaltigungen von Familienmitgliedern erzählt. Sie mussten erleben, dass nach Kriegsende alleinerziehende Witwen nicht die Kraft hatten, ihren Kindern so viel Liebe zukommen zu lassen, wie diese brauchen. Sie mussten erleben, dass heimkehrende Väter schwer traumatisiert waren, weil sie an der Front in ständiger Todesangst kämpften, oder weil sie im Krieg selbst getötet hatten. Dass Alkoholmissbrauch oder Gewaltanwendung in der eigenen Familie häufig einziger Kanal waren, um mit dieser schrecklichen Erfahrung klarzukommen. Und dass die im Krieg erlebten Handlungsmuster ihr ganzes Leben prägten, denn unsere Psyche verarbeitet langsam. Und selten komplett. Mit Auswirkungen auf die nächsten Generationen.
Wenn ich also trotz der Lebenserfahrungen meiner Vorfahren immer noch glaube, dass es mir schlecht geht, dass früher alles besser war, dass ich von meinem Wohlstand nichts teilen kann, dann bin ich ganz schön verblendet.
Keine Frage, bei uns ist nicht alles in Ordnung. Die Mieten, steigende Kosten für Strom und Heizung. Die Inflation (war aber auch schon höher) raubt meine Lebensqualität, Lohn und Gehalt reichen nicht bei allen für ein gutes Leben. Aber: Unsere Sorge ist im Vergleich doch klein und unbedeutend. Was ist mit anderen Ländern der Welt, wo es Menschen so viel schlechter geht? Fragen wir uns zum Beispiel, weshalb Menschen aus ihrer Heimat flüchten, um zu uns nach Europa kommen? Wie hoffnungslos, arm, leidvoll, zerstört deren Alltag aussah?
Die Bilder zu den Schicksalen im Heiligen Land oder in der Ukraine erreichen uns zwar täglich, aber wir lassen sie nicht an unser Innerstes. Dabei vergleichen wir uns doch so gerne mit anderen. Offenbar aber vor allem, wenn wir neidisch auf die schauen, denen es besser zu gehen scheint als uns, nicht aber, wenn Mitleid angebracht wäre. Es ist ein Mitleid mit Schicksalen, die unsere eigenen Vorfahren noch erleben mussten.
Ich bin deshalb einfach dankbar. Zum einen mache ich mir immer wieder klar, dass es uns im heutigen, friedlichen Europa vergleichsweise gut geht. Und gerade in trübsinnigen Momenten erinnere ich mich besonders gerne an ein großes Fest, das ich als Ordensmann im vergangenen Herbst erleben durfte. Ich habe in der so genannten Ewigen Profess meine Gelübde als Kapuziner bis zum Ende meines Lebens und darüber hinaus abgelegt.
Mein Profess-Spruch aus Psalm 118 lautet: „Meine Stärke und mein Lied ist der Herr, er ist für mich zum Retter geworden.“ Mit dieser Erkenntnis, auch bereits im irdischen Leben aufgefangen zu sein, gehe ich stark und zuversichtlich durchs Leben. Positives Denken und Zufriedenheit im Alltag beziehe ich aus Gottes Zusage, dass er mich immer wieder rettet. Auch, wenn ich nicht immer genau verstehe, wie diese Rettung in jedem Fall konkret aussieht.
Zum andern hat Dankbarkeit eine ewige, eine post-irdische, Dimension. Wer sich vor Augen führt, dass niemand tiefer fallen kann als in Gottes Hand, kann gelassener leben – dankbar, dass ohnehin alles gut werden wird. Diese Doppelbedeutung von Gottes Wirken, im diesseits und jenseits, erfahren wir eben auch schon in den Psalmen, den Jahrtausende alten Gebeten, in denen die Betenden Gott für sich und für andere anrufen.
Ich finde, das bin ich den Erfahrungen und den Kämpfen meiner Eltern und Großeltern schuldig: mein Leben annehmen, dankbar und zufrieden sein und einen Teil meiner Energie anderen zur Verfügung zu stellen, denen es dreckiger geht. Dann kommt auch wieder mehr Sonnenschein zu mir, und der Winter ist gar nicht mehr so bluesy.
Zum Autor: Bruder Michael Masseo Maldacker OFMCap, Jahrgang 1974, Kapuziner, lebt in Salzburg, gelernter Journalist, studierte Publizistikwissenschaft, Theologie, Theaterwissenschaft und Ethnologie in Mainz, Freiburg, Münster und Glasgow. Arbeitet in Salzburg für das Rote Kreuz in einer Unterkunft für Asylbewerber. Stammt aus dem Schwarzwald. Liebt das Leben und die Menschen.
Hinweis: Dieser Beitrag wird redaktionell von den christlichen Kirchen verantwortet.