Demokratie auf Russisch
9. Februar 2004Bonn, 9.2.2004, DW-radio, Miodrag Soric
Wo ist Iwan Rybkin? Der russische Präsidentschaftskandidat ist seit dem vergangenen Donnerstag (5.2.) spurlos verschwunden. Angeblich weiß weder seine Frau noch sein Wahlkampfteam, wo sich der 57-jährige frühere Parlamentspräsident aufhält. Rybkin gehört zu den schärfsten Kritikern des amtierenden Staatsoberhauptes Wladimir Putin. Ein ernsthafter Rivale beim Kampf um den mächtigsten Posten in Moskau war Rybkin freilich nie. Wahlforscher gaben ihm bestenfalls zwei Prozent. Rybkin wird von dem im Londoner Exil lebenden Oligarchen Boris Beresowskij finanziert. Zum Verschwinden von Rybkin ein Kommentar von Miodrag Soric:
Derzeit kann nur spekuliert werden, was die Hintergründe für das "Verschwinden" von Rybkin sind. Die einen behaupten, es gehe dem Präsidentschaftskandidaten nur darum, Schlagzeilen zu produzieren, sich als Opfer des russischen Repressionsapparates darzustellen: das Ganze sei also nur Wahlkampftaktik. Andere trauen es den russischen Sicherheitskräften durchaus zu, vorlaute Kritiker des Kremlchefs Putin gewaltsam zu verfolgen. Sie verweisen auf das Beispiel des weißrussischen Brudervolkes: In Minsk sind in den vergangenen Jahren gleich mehrere Oppositionelle "verschwunden". Menschenrechtler vermuten, dass der weißrussische Präsident Aleksandr Lukaschenka den Befehl gegeben hat, politische Widersacher umbringen zu lassen. Beweise für solche Vermutungen gibt es freilich nicht.
So traurig es mit Russlands Demokratie derzeit auch bestellt sein mag: So schlimm wie in Weißrussland ist es in dem größten Land der Erde noch nicht. Angeblich weiß die russische Polizei nicht, wo sich Rybkin zurzeit aufhält. Gleichzeitig hat ein Sprecher der Moskauer Sicherheitsbehörden der Frau von Rybkin versichert, dass ihr Mann noch am Leben sei und bald wieder auftauchen werde. Widersprüche wie diese sind typisch für das politische Leben in Russland, für das, was die Mächtigen in Moskau unter Demokratie verstehen. Gut möglich, dass Rybkin tatsächlich bald wieder auftaucht und Beschuldigungen gegen Putin vorträgt. Die Menschen werden es mit einem Achselzucken zur Kenntnis nehmen, so wie die tägliche Propaganda in den elektronischen Medien, in denen die abstrusesten Behauptungen gegen Oppositionelle oder "den Westen" vorgebracht werden.
Demokratie in Russland hat etwas Nebulöses, Undurchsichtiges an sich. Die Menschen trauen weder den Politikern, noch den sich selbst bereichernden Wirtschaftsbossen, noch den staatlich gelenkten elektronischen Medien. Hinzu kommt ein Gefühl der Angst, das jetzt verstärkt die Bewohner Moskaus befällt. Niemand weiß, wann die nächste Bombe in einer U-Bahn oder in einem Mietshaus oder vor einem Restaurant hochgeht. Keiner kennt die genaue Zahl der Opfer des jüngsten Terroranschlags auf die Moskauer Metro. Zuerst hieß es, 39 Menschen seien bei der Bombenexplosion zu beklagen gewesen. Hinter vorgehaltener Hand werden jetzt auch in Moskau ganz andere Zahlen genannt. Angeblich haben die Terroristen über hundert Menschen mit in den Tod gerissen. Die genaue Zahl der Opfer soll aber nicht veröffentlicht werden. Plausibel erscheint, dass der Kreml kein Interesse an noch größeren Opferzahlen hat. Schließlich kann der Terroranschlag auch als Versagen der Sicherheitskräfte interpretiert werden. Und die politische Verantwortung dafür trägt der Präsident.
Dem Wahlkämpfer Putin passt jetzt aber eine Diskussion über das Für und Wider der Arbeit des Geheimdienstes FSB (= Nachfolgeorganisation des KGB) nicht ins Konzept. Also erteilt der Kreml den Medien den Befehl, über die Opferzahlen des Terror-Angriffs zu schweigen. Russlands Medien sind wenig investigativ. So gibt es keine Berichte in den Medien darüber, wie viele russische Soldaten bei den Kämpfen in Tschetschenien ums Leben kommen. Wer hier kritisch nachfragt, macht sich bei Armee und Sicherheitskräften unbeliebt. Auch bei diesem Thema sind die Menschen in Russland auf Vermutungen und Spekulationen angewiesen. So verwundert es nicht, dass die russische Öffentlichkeit die anhaltenden Diadochenkämpfe unter den Politikern ziemlich ohnmächtig verfolgt. (lr)