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Delegierte Demokratie

8. Juni 2004

- Vor der Präsidentschaftswahl in der Ukraine kämpfen die Wirtschaftsgruppen um Einfluss

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Bonn, 8.6.2004, DW-RADIO / Ukrainisch, Ute Schaeffer

In der Ukraine finden im Herbst Präsidentschaftswahlen statt. Im Wahlkampf mischen rivalisierende Wirtschaftsgruppen kräftig mit, die um Einfluss kämpfen. Die Bürger des Landes sind resigniert und erwarten von der Politik eigentlich nichts. Ute Schaeffer kommentiert.

Der Oligarch will zurück - und er weiß warum. Pawlo Lasarenko, ehemaliger ukrainischer Regierungschef, möchte so bald wie möglich in sein Heimatland Ukraine zurückkehren. Wohl nicht zuletzt deshalb, weil das Leben dort für finanzstarke Wirtschaftsmagnaten komfortabel ist und weil ihm dort politischer Einfluss sicher wäre. Allerdings hat Lasarenko zuvor erst einmal seinen Prozess wegen Geldwäsche in Millionenhöhe in den USA hinter sich zu bringen.

Die Ukrainer haben ihrem System einen Namen gegeben - sie nennen es eine "delegierte Demokratie". In dieser wird Politik von Wirtschaftsbossen und Finanzmagnaten gemacht - an den politischen Institutionen wie dem Parlament vorbei. Politische Programme und Konzepte werden auch kaum öffentlich diskutiert, denn unabhängige Medien gibt es nicht. Politische Entscheidungen werden vielmehr überwiegend hinter verschlossenen Türen getroffen - von den Wirtschaftsgruppen im Land.

Und deshalb ist der Wahlkampf zur Präsidentschaftswahl im Herbst bereits jetzt vor allem ein Kampf zwischen diesen Einflussgruppen. Wer wird das Rennen machen? Der Kiewer Clan um den einflussreichen Verwaltungschef Kutschmas, Wiktor Medwedtschuk, und den Ex-Geheimdienst-Chef Derkatsch? Oder der Donezker Clan aus dem hochindustriellen Osten des Landes, dem Donbass, der mit Wiktor Janukowytsch bereits den Regierungschef stellt und diesen bereits zu ihrem Kandidaten für das Präsidentenamt gekürt hat? In jedem Fall sind diese beiden Wirtschaftsgruppen zurzeit am besten aufgestellt - verfügen über einflussreiche Posten in der Regierung und eine finanzstarke Organisation in den Regionen.

Korrektive gibt es kaum - in der Ukraine weist das Parlament nur Wochen nach der Parlamentswahl andere Mehrheitsverhältnisse auf, als die Wähler es wollten. Hektisch werden in diesen Wochen aus dem Nichts neue Bündnisse und Fraktionen geboren, die der Wähler auf keinem Wahlzettel gesehen hat. Einzelne Abgeordnete wechseln Fraktionszugehörigkeiten wie Hemden oder sind über Nacht parteilos. Das sei alles ein "ganz normaler" Prozess, versichern Abgeordnete. Und der Wähler werde in zwei Jahren ganz sicher alle diese Veränderungen "bestätigen". Mit letzterem könnten die Abgeordneten richtig liegen. Denn die ukrainische Bevölkerung erwartet von der Politik eigentlich nichts. Eine friedliche Revolution wie in Georgien ist hier nicht denkbar.

Im übrigen ist die Ukraine kein Einzelfall - auch in Russland hatten die Oligarchen bis vor wenigen Jahren großen Einfluss. Allerdings vertrieben die "Silowiki", Vertreter aus Geheimdienst, Polizei und Militär, in Putins Gefolge die superreiche Business-Elite der "Oligarchen". Mit Samthandschuhen ist Wladimir Putin dabei nicht vorgegangen. Wer politische Ambitionen hatte - wie Wladimir Gussinki, Boris Beresowski oder der ehemalige Jukos-Chef und Multi-Milliardär Michail Chodorkowskij - sitzt heute im Exil oder in Haft.

In der Ukraine ist ein solcher Trend noch nicht in Sicht. Hier haben sich die Wirtschaftsmagnaten ein politisches System geschaffen, dass einem Selbstbedienungsladen gleicht. Da spielt die Wahl des Staatspräsidenten allerdings eine große Rolle, denn dieser wird darüber entscheiden, welche Interessengruppen künftig das Sagen haben. Die ukrainischen Oligarchen eint deshalb zurzeit ein gemeinsames Feindbild: Wiktor Juschtschenko. Sollte der Kandidat der Opposition im Herbst zum Präsidenten gewählt werden, dann müssen sie um ihren Einfluss und wirtschaftliche Profite fürchten. Der Kandidat der Opposition verfügt über etwas, von dem viele Oligarchen nur träumen können: über Glaubwürdigkeit. Ein Ruf, den er sich in seiner Zeit als Regierungschef erarbeitet hat. Denn damals ging die Regierung gegen den wirtschaftlichen Raubbau und Korruption an, flossen Renten und Stipendien regelmäßig.

Ob das reichen wird, um eine Wahl zu gewinnen, ist allerdings nicht ausgemacht. Denn die "delegierte Demokratie" in der Ukraine treibt längst seltsame Blüten, die alles andere als demokratisch sind: kritische Medien werden mit Prozessen lahmgelegt, Bürgermeisterwahlen in der westukrainischen Provinz mit Schlägertrupps entschieden. Das alles mit dem Ziel, die Opposition auszuschalten. Bei soviel Selbstgerechtigkeit lässt sich der ukrainischen Führung - frei nach Bertolt Brecht - nur eines raten: Wir empfehlen der Regierung, "sich ein anderes Volk zu wählen." (MO)