"Das Wichtigste für ihn ist, das Gas-Geschäft mit Turkmenistan nicht zu vermasseln"
1. Juli 2003Köln, 30.6.2003, DW-radio / Russisch, Wiktor Agajew
Nach Informationen, die aus Turkmenistan eintreffen, werden in der Republik Personen, die die doppelte Staatsbürgerschaft besitzen, gewaltsam aus ihren Wohnungen vertrieben. Was steckt hinter den Ereignissen, über die derzeit in Russland gestritten wird?
Zur entstandenen Situation äußert sich der Berliner Politologe Alexander Rahr:
Es entsteht der Eindruck, dass das einerseits möglicherweise etwas mit der Wahlkampagne zu tun hat, aber andererseits hat das russische Außenministerium die Situation "verschlafen". Derzeit beginnen verschiedene äußere Kräfte das Vakuum zu füllen, das sich im Verhältnis zu Turkmenistan herausgebildet hat. Der Konflikt hat sich sehr zugespitzt. Die ehemaligen Bürger der Sowjetunion, die ethnischen Russen, die in Turkmenistan leben, sind tatsächlich in eine Falle geraten, da sie jetzt Turkmenistan nicht einmal einfach verlassen können. Dass sie jetzt Schutz, der ihnen bis jetzt nicht gewährt wurde, seitens des russischen Staates und des Außenministeriums fordern, ist meiner Meinung nach völlig legitim. Die Duma beginnt jetzt, ihnen diesen Schutz zu gewähren. Es kann tatsächlich zu einem sehr ernsten Konflikt kommen.
Frage:
Stimmen Sie den Kommentatoren zu, die die Reaktion von Putin verurteilen?Antwort:
Einerseits verwundert mich die schwache Reaktion Putins auf die derzeitigen Ereignisse, da eben die Sorge um die russischsprachige Bevölkerung in anderen GUS-Republiken früher seine Hauptsorge war. Das war sein wichtigstes politisches Pferd, auf das er setzte. Womöglich lässt er sich von bestimmten pragmatischen Überlegungen leiten. Es ist ja kein Geheimnis, dass alles begann, nachdem Russland einen ernsten Gas-Vertrag mit Turkmenbaschi unterzeichnet hatte und übereingekommen war, dass das turkmenische Gas Turkmenistan lediglich über Russland verlassen wird. Auf diese Weise hat Russland in gewissem Sinne Turkmenistan "gekauft", musste jedoch ernste Zugeständnisse bei der doppelten Staatsbürgerschaft machen. Putin selbst hat, als er vor einigen Tagen vor Journalisten auftrat, im Prinzip Turkmenbaschi kritisiert, ihn sogar fast schon als "Lügner" bezeichnet, der ganz einfach den Vertrag geändert hat. Putin unterstrich, sie seien mit Turkmenbaschi lediglich übereingekommen, dass Russland den Russen keine neuen Pässe ausstellen wird. Turkmenbaschi habe jedoch damit begonnen, die russische Bevölkerung aus Turkmenistan zu vertreiben. Ich glaube, Putin wird abwarten, wie die Situation sich entwickelt. Das Wichtigste für ihn ist, das Gas-Geschäft mit Turkmenistan nicht zu vermasseln. Sein politisches Pferd - die Sorge um die russischsprachige Bevölkerung – kann er jedoch nicht vergessen. Deshalb glaube ich, dass er im letzten Moment Rogosin und die Kräfte unterstützen wird, die derzeit scharfe Erklärungen gegen Turkmenistan abgeben."Russland wird sich auf keine Militäraktionen außerhalb seiner Föderation einlassen"
Dmitrij Rogosin
, der Vorsitzende des Duma-Ausschusses für internationale Angelegenheiten, sagte, es müsse eine bilaterale Kommission gebildet werden, die alle Fakten untersuchen müsse. Das Protokoll über die Außerkraftsetzung des Abkommens über die doppelte Staatsbürgerschaft gilt nicht rückwirkend. Deshalb ist Turkmenbaschi nicht berechtigt, die russischen Bürger aufzufordern, auf die turkmenische oder die russische Staatsbürgerschaft zu verzichten. Rogosin ist der Ansicht, dass die Methoden, die Aschgabad gegenüber angewandt werden müssen, möglicherweise nicht diplomatischen, sondern härteren Charakter tragen müssen.Liest man in Russland sogar solch ernste Zeitungen wie "Iswestija", ganz zu schweigen von den Internet-Zeitungen, so spürt man ganz offensichtlich, dass das Gefühl dominiert, Turkmenbaschi zu bestrafen, ihn in seine Schranken zu weisen. Einige sehen in ihm derzeit den größten Feind Russlands, eine Art "Saddam", mit dem so umgegangen werden muss, wie die USA mit dem irakischen Saddam umgegangen sind. Wie sieht das Alexander Rahr?
Alexander Rahr:
Eine Zuspitzung der Beziehungen ist offensichtlich. Ich glaube jedoch, dass die Leidenschaften in der russischen Staatsduma sehr schnell entbrennen und sich auch sehr schnell wieder legen. Ich glaube, dass Turkmenbaschi selbst gezwungen sein wird (weil er wirtschaftlich doch irgendwie von Russland abhängig ist), sich auf Kompromisse einzulassen. Er kann nur schwer auf den Westen setzen. Der Westen will mit ihm nichts zu tun haben. (...) Ich glaube, dass Russland sich heute auf keine Militäraktionen außerhalb seiner Föderation einlassen wird."Russland ist nicht an zusätzlichen Konflikten Interessiert"
Johannes Friesen
, Leiter der GUS-Abteilung der Internationalen Menschenrechtsgesellschaft in Frankfurt am Main antwortete auf die Frage, wie er die derzeitigen Beziehungen zwischen Turkmenistan und Russland bewertet, wie folgt:Die Beziehungen zwischen Turkmenistan und Russland sind heute in etwa so wie zwischen Russland und Nordkorea, zwischen Russland und dem Iran. Es überwiegen wirtschaftliche und strategische Interessen.
Frage:
Wie bewerten die Menschenrechtler die Information darüber, dass in Turkmenistan Russen aus ihren Wohnungen vertrieben werden?Antwort:
Wir sind der Ansicht, dass Turkmenbaschi weniger die Russen vertreiben als die Möglichkeit haben möchte, alle Unzufriedenen einzusperren. Sie dürfen nicht vergessen, dass vom Entzug der russischen Staatsbürgerschaft nicht nur Russen, sondern auch Turkmenen in Turkmenistan betroffen sind. Bürger, die die doppelte Staatsbürgerschaft besitzen, können eingesperrt werden, jedoch nicht so einfach, wie man sich das wünscht: wie dem auch sei, russische Bürger haben das Recht (theoretisch natürlich), von Russland in Schutz genommen zu werden. Russland hat jedoch seine strategischen, wirtschaftlichen und militärischen Interessen in Zentralasien, ist nicht an zusätzlichen Konflikten interessiert. Das hat vor langer Zeit begonnen. Vor etwa einem Jahr sagte Putin bei einem Besuch in Zentralasien, dass alle Russen, die auswandern wollten, bereits ausgewandert sind. Diese Worte riefen tiefe Empörung unter den Russen hervor. Später wurde das Migrationsgesetz angenommen, das es den russischsprachigen Bürgern erschwerte, die russische Staatsbürgerschaft zu bekommen. Danach unterzeichneten Russland und Turkmenistan das Abkommen über die Außerkraftsetzung des Vertrages über die doppelte Staatsbürgerschaft. Alles wäre unbemerkt geblieben, wenn nicht die russische Öffentlichkeit da wäre. Sogar die Duma zeigte sich besorgt: gibt es doch etwa 100 000 Personen, die die doppelte Staatsbürgerschaft in Turkmenistan besitzen.Frage:
Wie sieht der Ausweg aus dieser Situation Ihrer Meinung nach aus?Antwort:
Turkmenbaschi hält Turkmenistan für einen autarken Staat und ist überzeugt, dass sich der Lärm in den Massenmedien irgendwann legen wird, dass Russland heute seine militärischen und wirtschaftlichen Interessen in Zentralasien nicht ignorieren kann. Ein Beispiel dafür sind die Beziehungen zu Usbekistan und Tadschikistan. Die einzige Möglichkeit, die Situation zu ändern, sind nicht nur wirtschaftliche Sanktionen gegenüber Turkmenistan, sondern die internationale Isolierung Turkmenistans. Ich denke, dass die Exekutivmacht Russlands sich darauf lediglich einlassen kann, wenn die Duma mit der verfassungsmäßigen Mehrheit einen Beschluss diesbezüglich fasst. Ich glaube nicht, dass der Kreml sich selbständig auf einen endgültigen Abbruch der Beziehungen zu Turkmenbaschi einlassen wird. Was die gewaltsame Lösung der Frage betrifft, so ist das rein technisch möglich. Russland wird sich jedoch darauf nicht einlassen. (lr)