Bulgariens Sozialisten unter neuer Führung
11. Juni 2002Sofia, 11.6.2002, 1009 GMT, RADIO BULGARIEN, deutsch
Der 36-jährige Sergej Stanischew wurde von den Delegierten des 45.Parteitages der Bulgarischen Sozialistischen Partei am Wochenende (8/9.6) zu ihren Vorsitzenden gewählt. Er erhielt 95 Prozent der Stimmen. (...)
Dieser Parteitag unterscheidet sich von früheren dadurch, dass die Sozialisten zum ersten Mal auf ihre innerparteilichen Kämpfe verzichtet haben. Überraschenderweise schieden aus dem Ringen um den Posten des Parteivorsitzenden alle anderen sechs Bewerber aus, die ihre Bewerbungen zurückzogen. Und zum ersten Mal gab die Parteiführung eine kritische Bewertung der erfolglosen Regierungszeit der Sozialistischen Partei ab, die um die Jahreswende zu 1997 in einer Krise mündete.
"Wir müssen uns über unsere Fehler im Klaren sein, um sie nicht zu wiederholen und in Zukunft auf festem Boden zu stehen", sagte Sergej Stanischew in seinem Rechenschaftsbericht vor dem Parteitag. "Unsere Regierung setzte auf eine Erhöhung der staatlichen Produktion, ohne auf die Gesetze des Marktes zu achten und ohne gesicherten Absatz. Die Strukturreform wurde auf die lange Bank geschoben. Die Fähigkeit des Landes, einen selbstständigen Kurs zu verfolgen, wurde überschätzt, die internationalen Gegebenheiten ignoriert und die Beziehungen mit den Internationalen Finanzinstitutionen unterschätzt. Die Exekutive verstand es nicht, in einen ständigen konstruktiven Dialog mit der zivilen Gesellschaft, den politischen Parteien, den Medien und Geschäftsleuten zu treten. Wir können auf die objektiven Bedingungen, wie riesige Zahlungen bei den Auslandsverpflichtungen, ein geerbtes verrottetes Bankensystem, die übergroßen Erwartungen und dem Boykott der Vertreter der Union der Demokratischen Kräfte in der Verwaltung nicht ignorieren. Wir haben deswegen nicht das Recht, die ganze Verantwortung dem einen oder anderen Vertreter der Bulgarischen Sozialistischen Partei in der Exekutive zuzuweisen, denn die Partei selbst erwies sich als unfähig, rechtzeitig die Schwächen ihre Regierung zu korrigieren und abzustellen". (...)
Als politische Hauptaufgabe der Sozialisten nannte der Parteivorsitzende Sergej Stanischew den Sieg bei den nächsten Parlaments- und Kommunalwahlen. Das Land braucht ihm zufolge nicht nur ein neues Regierungsprogramm, sondern auch eine neue Art zu regieren.
"Bulgarien braucht eine aktive und in einigen Fällen auch aggressive Politik auf dem Gebiet der Industrie, der Investitionen, der Landwirtschaft, der Regionalpolitik, der Infrastruktur, der Steuern und des Staatshaushaltes. Wir betonen erneut unsere Prioritäten, die die bulgarische Wirtschaft wieder zum Leben erwecken werden. Es sind Infrastruktur, Spitzentechnologie, Energiewirtschaft, Landwirtschaft und Fremdenverkehr."
Die Sozialisten betonten auf ihren Parteitag erneut, dass der Beitritt zur Europäischen Union und zur NATO für sie weiterhin ein strategisches Ziel ist und sie diesbezügliche Bemühungen der Regierenden unterstützen werden. Sie kritisieren aber auch die Regierung der Nationalen Bewegung Simeon II. (NBS) wegen der Diskrepanz zwischen dem Wahlversprechen und der realen Politik. Die Bulgarische Sozialistische Partei ist in der Rolle der Opposition, betonte Sergej Stanischew und sagte, dass die zwei Minister, die mit der Linken verbunden sind, selber entscheiden müssen, bis wann ihre Teilnahme an der Regierung begründet ist. Weniger Tage vor dem Parteitag sprach jedoch der stellvertretende Parteivorsitzende der Bulgarischen Sozialistischen Partei, Rumen Owtscharow, von der Notwendigkeit, Verhandlungen der Linken mit der Regierenden NBS über eine Koalition aufzunehmen. (...) (fp)