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Beispiellos in Europa

30. Juli 2004

- In Albanien kennt man nicht einmal das Wort Antisemitismus

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Bonn, 30.7.2004, DW-RADIO / Albanisch, Aida Cama

Das Simon-Wiesenthal-Zentrum ist seit Jahrzehnten durch die Jagd auf Nazi-Kriegsverbrecher berühmt geworden. Vor zwei Jahren startete es die "Operation Letzte Chance", um an die Kollaborateure zu kommen, die sich aktiv an der Ermordung der europäischen Juden beteiligt hatten. Die Suche beschränkt sich nicht nur auf die baltischen Länder, Polen, Ungarn und Österreich, sondern auch auf Balkanstaaten. Albanien ist nicht darunter, denn dort wurden Juden nie verfolgt. Selbst das Wort "Antisemitismus" ist den Menschen in Albanien unbekannt. Informationen von Aida Cama:

"Das ist in Durazzo aufgenommen, gleich nachdem wir rüber kamen, meine Eltern und ich. Und das hier sind albanische Kinder, und das sind zwei Freundinnen, die mit uns nach Albanien gekommen sind. Das ist in Shkozet. Wir haben lange Zeit in Shkozet bei einem Bauern gewohnt. Und das ist Frau Pilku ..."

In einem Café in Hamburg zeigt Johanna Jutta Neumann, die 74-jährige Washingtonerin, Fotos von ihrer Ankunft im albanischen Durrës im Frühjahr 1939. In Hamburg ist sie geboren, dort hat sie auch die Schule besucht, bis zur zweite Klasse. Dann war die Jüdin mit ihrer Familie über Italien nach Albanien geflohen, so wie etwa 100 andere aus dem damaligen Deutschen Reich.

"Und wie wir angekommen sind in Durazzo am ersten März, wussten wir überhaupt nicht, was zu erwarten war. Und wir haben nicht gewusst, dass es schon andere Emigranten dort gab. Und dann haben wir bei einer mohammedanischen Familie gelebt. Da haben wir zum aller ersten Mal Ramadan, Bajram erlebt. Es war wunderbar. Die Leute haben uns behandelt wie ihre eigene Familie. Essen ist geschickt worden, Baklava und Pilav - wunderbar! Und die Leute haben uns sogar mitgenommen in die Moschee. Die Albaner waren phantastisch. Ich glaube, es gibt nicht ein anderes Land in Europa, wo mehr Juden nach dem Krieg waren als vor dem Krieg."

Zwar gab es immer wieder Versuche der faschistischen Besatzungsmächte in Albanien, die Juden in Lagern zusammenzutreiben, um sie zu deportieren. Aber albanische Bauern nahmen Juden auf und versteckten sie, und albanische Beamte und Politiker wussten die Anordnungen der Besatzer erfolgreich zu unterlaufen. So wurden alle fast 900 nach Albanien geflohenen ebenso wie die albanischen Juden gerettet - beispiellos in Europa.

"Albanien stellt, was die Situation der Juden angeht, ein Gegenmodell zu den übrigen

europäischen Ländern unter nationalsozialistischer Besatzungsherrschaft dar. Vor allem Alt-Albanien erwies sich als sicherer Zufluchtsraum", schreibt Michael Schmidt-Necke, ein Kieler Historiker und Balkanologe über dieses außergewöhnliche Phänomen. Im Unterschied zu anderen europäischen Ländern gab es in Albanien weder eine Abwehrhaltung gegenüber den Juden als Religionsgemeinschaft noch eine Abwehrhaltung gegenüber den Juden als erkennbare ethnische Minderheit. 200 albanische Juden bei damals einer Million Einwohnern Albaniens sind nur wenig im europäischen Kontext.

Die Juden in Albanien waren durchweg hoch assimiliert und von der übrigen Bevölkerung kaum zu unterscheiden. Kaum jemand sprach Ladino, die romanische Sprache der südeuropäischen Juden. Nur in Vlora gab es zeitweilig eine Synagoge. Die Juden in Albanien haben das typische Diaspora-Leben geführt. Das religiöse Leben spielte sich in den eigenen vier Wänden ab. Sie waren keine sichtbare Gruppe, mit der man sich irgendwie hätte auseinandersetzen können.

Darüber hinaus ist Albanien ein gemischt-religiöses Land. Vor dem 2. Weltkrieg waren etwa zwei Drittel der Bevölkerung Muslime, verteilt auf zwei große Glaubensgemeinschaften; bei den Christen Albaniens gab es ebenfalls eine Spaltung in Orthodoxe und Katholiken. Das führte zu einem hohen Grad an interreligiöser Toleranz und auch interreligiösem Zusammenleben auf kleinem Raum. Anna Kohen erinnert sich:

"Ich bin in Albanien geboren und aufgewachsen und habe mich immer als Albanerin jüdischer Herkunft gefühlt. Meine Familie ist nach Albanien aus Thessaloniki in Griechenland gekommen und hat im Dorf Tre vllaznit zu deutsch 'Drei Brüder' in der Nähe von Vlora Zuflucht gefunden. In Albanien haben wir uns immer wie zu Hause gefühlt. Von Antisemitismus war nie die Rede. Dass wir jüdischer Herkunft sind, hat überhaupt keine Rolle gespielt."

Anna Kohen wurde kurz nach Kriegsende in Albanien geboren und lebte dort unter

kommunistischer Herrschaft als Kind und Jugendliche. Heute ist sie Zahnärztin in New York und spricht weiterhin fließend die Sprache, die sie zuerst gelernt hat: Albanisch.

Auch in der Zeit der kommunistischen Diktatur unter Enver Hoxha gab es keinen Antisemitismus. Und noch heute ist es so: wenn man von Antisemitismus spricht, wissen Albaner nicht, was damit gemeint ist. Man kennt nicht einmal das Wort. (fp)