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"Ansichten aus dem fernen Europa"

20. September 2004

- Russischer Staatssender weist OSZE-Kritik an Berichterstattung über Geiselnahme von Beslan zurück

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Moskau, 17.9.2004, RADIO MAJAK, russ.

Eine OSZE-Gruppe für Medienfreiheit hat einen Bericht vorgelegt, in dem sie die Arbeit der russischen Presse und der Machtorgane während der Tragödie von Beslan rundweg verurteilt. Die Hauptvorwürfe richten sich gegen die Verheimlichung von Information und gegen Zensur. Unser Korrespondent Nikolaj Ossipow, der in jenen Tagen aus Beslan berichtete, ist anderer Meinung:

Schlag gegen die Demokratie, Verlust des Vertrauens in die Presse und die Machtorgane, Vorenthalten von Information und ein ganzer Katalog weiterer Kritik - all das ist auf den Seiten des Berichts von Miklos Haraszti nachzulesen. Als OSZE-Vertreter für Medienfreiheit fühlte er sich verpflichtet, zu beurteilen, wie Journalisten und Offizielle während des Dramas von Beslan arbeiteten. Selbstverständlich hatte er über beide nichts Gutes zu berichten.

Warum haben die Reporter nicht alles berichtet? Warum haben sie das wahre Ausmaß der Krise verschwiegen? Das sind alte Fragen. Das Ausmaß und der Schrecken der Tragödie waren jedem völlig klar - anscheinend mit Ausnahme von Herrn Haraszti. Möglicherweise waren die Bilder für ihn nicht anschaulich genug und er wollte mehr ermordete Kinder sehen, mehr Blut und mehr Tränen. Die Reporter, mit denen ich in Beslan arbeitete, sind sich aber sicher, dass irgendwo eine Grenze gezogen werden muss, dass eine Tragödie nicht zur Show gemacht werden darf. Die Korrespondentin von "Westi" [Nachrichtensendung im russischen Fernsehen] Margarita Somonjan berichtete in jenen Tagen live aus Beslan. Wenn es Informationsbeschränkungen gab, dann waren sie dazu da, Schaden zu verhindern, meint sie. Die OSZE-Kritik ist also nicht ganz verständlich.

(Simonjan) Ich möchte denen, die derartige Kritik anmelden und Berichte wie diese verfassen raten, sich vor Ort zu begeben und in einer solchen Situation zu arbeiten, vorzugsweise als Journalist. Gott behüte, eine Situation wie diese wiederholt sich, aber dennoch. Das Hauptdilemma, mit dem man konfrontiert ist, ist, zu verhindern, den Menschen, die dort drin sind, zu schaden. Am Ende des Tages war mein Bericht oder der eines anderen viel weniger wichtig als das Leben der Kinder und Erwachsenen, die in der Schule gefangen gehalten wurden. Es ist eine Art von Selbstzensur nötig.

(Korrespondent) Der OSZE-Vertreter ist sehr darüber enttäuscht, dass die Behörden nicht sofort bekannt gaben, wie sie das Geiseldrama lösen wollten. Es scheint, ihm wäre es lieber gewesen, hätte der FSB mitgeteilt, wann die Erstürmung beginnt und Journalisten darüber in regelmäßigen Nachrichtenausgaben berichtet hätten. Einer meiner Kollegen, Nikolaj Mamalaschwili, Kommentator bei Radio Russland, berichtete in jenen Tagen ebenfalls aus Beslan. Er weiß besser als alle anderen, welcher Schaden angerichtet werden kann, wenn ein Wort zu viel gesagt wird.

(Mamalaschwili) 1997 wurden einige meiner Kollegen und ich als Geiseln genommen. Wir verbrachten drei Monate in einem Terroristen-Stützpunkt. Dort hatten wir die Gelegenheit, die regelmäßigen Nachrichtenausgaben zu verfolgen - genauso wie die Bewaffneten übrigens. Einige Berichte unserer Medien versetzten uns in Angst und Schrecken und wir gingen davon aus, dass das Schlimmste mit uns geschehen wird. Es war dort, im Stützpunkt der Bewaffneten, wo uns bewusst wurde, wie wichtig es ist, jedes einzige Wort abzuwägen. Unbestätigte Meldungen dürfen unter keinen Umständen in den Äther geschickt werden. Ein Journalist muss sich stets dessen bewusst sein, dass jedes unvorsichtige Wort die Terroristen provozieren kann - mit allen tragischen Konsequenzen für die Geiseln.

(Korrespondent) Viele stellen jetzt die Frage, warum die genaue Anzahl der Geiseln nicht von Anfang an angegeben wurde. Haraszti erklärt in seinem Bericht, eine Gruppe von Leuten in Beslan habe einen Journalisten der Komsomolskaja prawda sogar zusammengeschlagen, weil er berichtet hatte, dass 300 und nicht 1000 Menschen gefangen gehalten werden. Woher die OSZE diese Geschichte hat, ist unklar. Die Kollegen von der Komsomolskaja prawda geben zu, dass es in der Tat einen Konflikt mit der örtlichen Bevölkerung gegeben hat, aber nicht wegen Berichten über die Zahl der Geiseln. Der Grund war, dass Angehörige der Geiseln sich nicht fotografieren lassen wollten. Was die Anzahl der Geiseln betrifft, so waren die ersten Zahlen niedriger, nicht weil jemand die eigentliche Zahl verbergen wollte. Es war einfach so, dass keiner sie kannte.

Die OSZE behauptet, man habe physischen Druck auf die Presse ausgeübt und verweist auf die Ausweisung eines georgischen Aufnahmeteams aus Nordossetien. Aus irgendwelchen Gründen verschweigt Haraszti, dass diese Journalisten ausgewiesen wurden, weil sie keine Akkreditierung hatten, die Ausländer brauchen, um in Russland arbeiten zu können. Außerdem enthielten ihre Pässe keinen Visumsvermerk. Daher die Ausweisung.

In diesem emotionalen, aber leider einseitigen Bericht versucht Haraszti hartnäckig zu beweisen, dass wir uns in all jenen Tagen gegenseitig belogen haben, und zwar bewusst. Nur in Europa konnte man uns entlarven. All dies geschieht trotz des Blutes und der Angst von Hunderten von Menschen in Beslan, denen die Ansichten eines Experten aus dem fernen Europa gleichgültig waren. (TS)