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KulturGlobal

H. C. Andersens Märchen: Sehnsucht, Schmerz und Hoffnung

1. August 2025

Vor 150 Jahren starb Hans Christian Andersen, doch seine Märchen wie "Die kleine Meerjungfrau" oder "Das hässliche Entlein" berühren bis heute: Sie erzählen von Außenseitern, Sehnsucht und menschlichen Schicksalen.

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Die kleine Meerjungfrau als  Statue im Hafen von Kopenhagen
Eine von H. C. Andersens berühmtesten Figuren: die kleine Meerjungfrau (Kopenhagen)Bild: Joana Kruse/IMAGO

Er war ein Träumer, ein Wanderer zwischen Fantasie und Wirklichkeit - und wurde zu einem der berühmtesten Märchenerzähler der Welt. Hans Christian Andersen starb am 4. August 1875 in Kopenhagen vor 150 Jahren. Doch seine Geschichten leben weiter - in Kinderzimmern, auf Theaterbühnen und im Kino. Sie erzählen von Außenseitern, Sehnsucht und menschlichen Schwächen, von Schönheit und Schmerz. Und sie haben bis heute nichts von ihrer Faszination verloren.

Hier sind fünf Gründe, warum Hans Christian Andersen uns auch 2025 noch etwas zu sagen hat.

1. Andersen: Vom Außenseiter zum gefeierten Künstler

Andersen, geboren am 2. April 1805, wuchs in armen Verhältnissen im dänischen Odense auf. Sein Vater war ein Schuster, seine Mutter eine alkoholkranke Wäscherin. Seine Tante führte ein Bordell. Andersens Kindheit war geprägt vom Kampf ums tägliche Brot, er besuchte eine Armenschule. Er liebte Bücher und Theater und begann erste Geschichten zu schreiben.

Porträt eines Mannes mit längeren nach hinten gekämmten Locken.
Alles außer Mainstream: Hans Christian Andersen führte ein exzentrisches LebenBild: United Archives/picture alliance

Mit 14 Jahren ging er nach Kopenhagen - und dort wurde der Direktor des königlichen Theaters auf ihn aufmerksam. Er nahm Andersen unter seine Fittiche und förderte sein Talent. Und das machte ihn schließlich über Dänemarks Grenzen hinaus bekannt. Er war gerade einmal 30 Jahre alt, als ganz Europa seine Gedichte, Theaterstücke, zwei Romane und seine ersten "Märchen, erzählt für Kinder" feierte. Nur zu Hause wurde ihm die Anerkennung zunächst versagt: Seine Märchen wurden von Kritikern als "schädlich" und "unverantwortlich" bezeichnet.

Erst Jahre später erkannten auch die Dänen Andersens Werke an. Dabei waren es besonders die Märchen, die seinen Weltruhm begründeten. Sie machten ihn zum gefeierten Künstler, der vom dänischen König mit dem höchsten Orden des Landes ausgezeichnet wurde. Andersens Karriere vom bettelarmen Jungen zum gefeierten Star ist ein Paradebeispiel für einen festen Glauben an sich selbst.

2. Subtile Gesellschaftskritik mit zeitloser Wirkung

Hinter der märchenhaften Oberfläche von Andersens Erzählungen steckt oft feine Satire oder Kritik an Macht, Eitelkeit und sozialer Ungerechtigkeit.

"Des Kaisers neue Kleider" ist eine Parabel auf Eitelkeit, Mitläufertum und die Angst, Autoritäten zu widersprechen - ein Motiv, das in Zeiten von Social Media und öffentlicher Selbstinszenierung aktueller denn je ist.

Kaum ein Märchen trifft so ins Herz wie die Geschichte des kleinen Mädchens, das in einer eiskalten Silvesternacht versucht Streichhölzer zu verkaufen. Am nächsten Tag wird es auf der Straße gefunden, erfroren und namenlos. Andersen schrieb dieses Märchen nicht nur, um zu rühren. Es ist auch eine Sozialkritik: ein stiller Protest gegen die Gleichgültigkeit gegenüber Armut und Kinderleid. Die Not des Mädchens lässt uns bis heute nicht kalt - täglich sehen wir obdachlose Menschen auf den Straßen.

"Das hässliche Entlein", oft als autobiografisch gedeutet, erzählt die Erfolgsgeschichte eines gedemütigten Außenseiters, vom Lebensweg eines unverstandenen Kükens, das trotz zahlreicher Rückschläge schließlich doch noch ans Ziel kommt: Am Ende verwandelt es sich in einen wunderschönen Schwan. Nicht zufällig ist der Satz "Entdecke den Schwan in dir" immer noch ein geflügeltes Wort für Selbstermächtigung.

"Die kleine Meerjungfrau" steht für die Sehnsucht nach einer anderen Welt und die Bereitschaft, aus Liebe das größte Opfer zu bringen: das eigene Leben. Die Meerjungfrau verliebt sich in einen Prinzen und opfert ihre Stimme, um als Mensch bei ihm zu sein. Doch er heiratet eine andere. Am Ende löst sie sich im Meer auf und wird zur "Tochter der Lüfte", die sich durch gute Taten eine unsterbliche Seele verdienen kann.

Disney Trickfilm: Arielle küsst einen Prinzen.
Die Disney-Arielle hat ein Happy End - im Gegensatz zum OriginalBild: Disney

Diese Geschichten sprechen Gefühle an, die Menschen auf der ganzen Welt kennen: die Suche nach Liebe und Identität, die Hoffnung auf Anerkennung, die Kraft der eigenen Wandlung. Und die Tatsache, dass es eben nicht immer ein Happy End im Leben gibt. Diese Botschaften sind zeitlos.

3. Ein Leben voller Ängste und Exzentrik

Andersen war hochsensibel und zugleich voller Eigenheiten, die ihn zu einer schillernden Figur machen: Er litt unter Verfolgungswahn, Stimmungsschwankungen und an Hypochondrie. Er hatte Angst vor Hunden und Raubüberfällen. Wenn er eine schlechte Kritik bekam, wälzte er sich schon mal wütend auf dem Boden. Auf Reisen führte er stets ein Seil mit, um sich im Notfall aus brennenden Hotels abseilen zu können.

Andersen litt außerdem unter einer ausgeprägten Angst, lebendig begraben zu werden, auch bekannt als Taphephobie. Aus Angst, man könnte ihn für tot halten, wenn er schlief, legte er Zettel auf den Nachttisch mit der Aufschrift "Ich bin nur scheintot".

 Hans Christian Andersen sitzt in seinem Zimmer  am Fenster und schaut hinaus.
Hans Christian Andersen in seinem Zimmer am Nyhavn in KopenhagenBild: United Archives/picture alliance

Ein geplanter Kurzbesuch bei Charles Dickens in London dehnte sich auf fünf Wochen aus - sehr zum Leidwesen des britischen Schriftstellers, der mehr als erleichtert war, als sein exzentrischer Gast endlich abreiste. Auf einen Spiegel im Gästezimmer notierte Dickens: "Hans Andersen schlief in diesem Zimmer fünf Wochen - was der Familie wie Ewigkeiten vorkam!"

Trotz seiner exzentrischen Züge zeigt uns Andersen bis heute, dass Kreativität oft aus dem Mut entstehen kann, anders zu sein: Wer seine Eigenheiten annimmt, statt sie zu verstecken, findet vielleicht gerade darin die Kraft für außergewöhnliche Geschichten, Ideen und Kunstwerke.

4. Märchen mit Tiefgang - für Kinder und Erwachsene

Andersen hat seine Geschichten nicht geschrieben, um Kindern Märchen von schönen Prinzessinnen und edlen Rittern zu erzählen. Sie enthalten oft eine tiefere, melancholische Ebene. Hinter seinen sprechenden Tieren und magischen Wesen verbergen sich große Themen: Sehnsucht, Verlust, Tod, Identität.

Trotz ihrer Vielschichtigkeit enthalten Andersens Märchen oft eine moralische Botschaft. Bestraft wird hier nicht nur das Böse, eher wird das Gute - Freundlichkeit und Mitgefühl - belohnt. Heute ist allgemein bekannt, dass positive Verstärkung einen größeren erzieherischen Wert hat als reine Bestrafung.

5. Ein Erbe, das um die Welt geht

Andersens Einfluss reicht bis heute weit über Dänemark hinaus. Seine Werke wurden in mehr als 150 Sprachen übersetzt, und Motive aus seinen Geschichten finden sich bis heute in Theater, Musik, Ballett, Comics und Filmen. In seiner Heimatstadt Odense erinnert ein Museum an ihn, immer wieder gibt es Ausstellungen, die ihn über sein Wirken als Märchenerzähler hinaus porträtieren.

Skulptur H. C. Andersens, sitzend, der schräg nach oben schaut.
Andersen-Skulptur am Rathaus von KopenhagenBild: Ida Marie Odgaard/Ritzau Scanpix/picture alliance

Disney machte seine Märchen weltberühmt: "Arielle, die Meerjungfrau" basiert auf "Die kleine Meerjungfrau", und auch der Welterfolg "Frozen" wurde von "Die Schneekönigin" inspiriert.
Seine Figuren sind zu globalen Ikonen geworden - von der Meerjungfrauen-Statue in Kopenhagen bis zum Denkmal im New Yorker Central Park. Kaum ein europäischer Autor des 19. Jahrhunderts prägt die Popkultur so nachhaltig wie Andersen.

Hans Christian Andersen hat die Welt verzaubert, weil er das Menschliche hinter dem Märchen sichtbar machte. Seine Figuren leiden, sehnen sich, hoffen - genau wie wir. 150 Jahre nach seinem Tod sind seine Geschichten noch immer lebendig, weil sie mehr sind als Märchen: Sie sind ein Spiegel unserer eigenen Seele.

Wuensch Silke Kommentarbild App
Silke Wünsch Redakteurin, Autorin und Reporterin bei Culture Online