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Alterspräsident Gregor Gysi: Stimme der Ostdeutschen

24. März 2025

Niemand ist länger Abgeordneter als der 77-jährige Linke. Deshalb darf er im neuen Bundestag die erste Rede halten. Über den Inhalt kann er frei entscheiden.

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Gregor Gysi lehnt lässig mit verschränkten Händen am Geländer einer Treppe in einem Gebäude des Deutschen Bundestags. Er ist mit einem schwarzen Jackett bekleidet, darunter trägt er ein ebenfalls schwarzes T-Shirt. Mit seiner runden Nickel-Brille und Halbglatze lächelt Gysi verschmitzt.
Gregor Gysi verbringt viel Zeit im Deutschen Bundestag, dem er seit 1990 fast ununterbrochen als Abgeordneter angehörtBild: Xander Heinl/photothek/picture alliance

Wäre das Lebensalter entscheidend, hätte dem 84-jährigen Alexander Gauland von der Alternative für Deutschland (AfD) das Privileg zugestanden, am 25. März den neuen Deutschen Bundestag mit einer Rede zu eröffnen. Doch ausschlaggebend für das Amt des Alterspräsidenten oder der Alterspräsidentin ist etwas anderes: die Zeit der Parlamentszugehörigkeit. Und da hat Gregor Gysi mit 31 Jahren die Nase vorn.

Abgeordneter seit dem Tag der Deutschen Einheit

Der 77-jährige Politiker der Partei Die Linke ist mit einer kurzen Unterbrechung seit dem 3. Oktober 1990, dem Tag der Deutschen Einheit, Abgeordneter. Mit seiner Vita steht er für viele Beobachter wie niemand sonst im Bundestag für das einstmals in Ost und West geteilte Land. Wobei Gysi die längste Zeit seines bisherigen Lebens in der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) verbracht hat. Jenem Staat, der seinem Namen zum Trotz eine kommunistische Diktatur gewesen war.         

Gregor Gysi sitzt im Dezember 1989 auf einem Parteitag der SED/PDS an einem Rednerpult, auf dem neben zahlreichen Mikrofonen Kaffeekannen und Tassen stehen. Er trägt ein helles Jackett und ein graues Hemd.
Gregor Gysi (l.) am 16. Dezember 1989 auf einem SED-PDS-Sonderparteitag; eine Woche vorher war er zum Vorsitzenden gewählt worden Bild: Hans Wiedl/picture alliance

Den Weg in die Politik fand der promovierte Rechtsanwalt während der friedlichen Revolution in der DDR. Als die bis dahin allmächtige Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED) nach dem Fall der Berliner Mauer am 9. November 1989 vor der Auflösung stand, übernahm der damals 41-jährige Gysi kurz danach deren Vorsitz. 

Aus der SED wurde vorübergehend die PDS 

Als Zeichen des Neuanfangs gab sich die alte Staats- und Regierungspartei den Zusatz PDS (Partei des Demokratischen Sozialismus). Wenige Monate später erfolgte - zumindest rhetorisch - der endgültige Bruch mit der SED-Vergangenheit, indem der ursprüngliche Parteiname gestrichen wurde. Bei der letzten und einzigen freien Wahl zur DDR-Volkskammer erhielt die PDS gut 16 Prozent der Stimmen. 

Gregor Gysi im dunklen Jackett und mit Krawatte ist am Tag der Wahl zu DDR-Volkskammer 1990 von Journalisten mit TV-Kameras, Mikrofonen und Kopfhörern  umringt. Vor ihm auf einem gelben Tisch liegt eine große schwarz-rot-goldene DDR-Farbe mit Ährenkranz, Hammer und Zirkel als Symbole des sogenannten Arbeiter- und Bauernstaats.
Das Interesse der Medien an Gregor Gysi (dunkles Jackett) war auch bei der Wahl zur DDR-Volkskammer 1990 groß Bild: Valdmanis/United Archives/picture alliance

Als deren Vorsitzender führte Gysi die SED-Nachfolgepartei bei der ersten Wahl nach der Deutschen Wiedervereinigung in den damals noch in Bonn (Nordrhein-Westfalen) ansässigen Bundestag. Mit offenen Armen wurden die Abgeordneten seiner Partei nicht empfangen. "Als ich 1990 in den Bundestag kam, wurde ich nicht respektiert, teilweise gehasst", erinnert sich der gebürtige Berliner im Gespräch mit der Wochenzeitung "Das Parlament" an die Anfangszeit.

Respekt und Anerkennung musste sich Gysi erarbeiten

Zwar habe es einige gegeben, die ihm sachlich begegnet seien, aber Respekt habe er sich über Jahrzehnte hinweg erarbeiten müssen. Unter den meisten westdeutschen Abgeordneten dominierten lange Vorbehalte. Heute sei das anders: "Ich glaube, eine Mehrheit im Bundestag erkennt zumindest meine politische Arbeit an."

Je heftiger die Anfeindungen in den ersten Jahren nach der Wiedervereinigung wurden, desto mehr verstand sich Gysi als wichtigster Verteidiger ostdeutscher Interessen. Millionen ehemalige DDR-Bürgerinnen und Bürger hatten damals ihre Arbeit verloren, weil die maroden Volkseigenen Betriebe (VEB) im kapitalistischen Wirtschaftssystem nicht konkurrenzfähig waren. Schnell verbreitete sich das Gefühl, Bürger zweiter Klasse zu sein.

Höhen und Tiefen ist die Linke gewohnt

Das wollte und will Gysi ändern, gelungen ist ihm das aber nur teilweise. Anfangs avancierte die neue linke Kraft im Osten zur Volkspartei mit regionalen Wahlergebnissen von über 20 Prozent. Aber im Laufe der Zeit wandten sich viele Menschen aus Enttäuschung über die gesellschaftliche Entwicklung von der Politik und damit auch der Partei ab. Umso mehr freut sich Gysi über den unerwarteten Erfolg seiner inzwischen als "Die Linke" firmierenden Partei bei der Bundestagswahl am 23. Februar.

Mit knapp neun Prozent verdoppelte sie ihr Ergebnis fast. Dass die teilweise rechtsextreme AfD mit fast 21 Prozent den mit Abstand größten Stimmenzuwachs erzielte, betrübt Gysi besonders. Wohl auch deshalb will er in seiner Eröffnungsrede als Alterspräsident des Bundestags etwas zur Situation der Gesellschaft sagen, wie er vorab durchblicken ließ. Auch zur Außenpolitik wird er sich vor dem Hintergrund zahlreicher Kriege und Krisen äußern.  

Stasi-Vorwürfe wurden nie ganz aufgeklärt

Ungeteilten Beifall wird es für den Linken-Politiker kaum geben. Auch wegen Vorwürfen, die zwar lange zurückliegen, aber nie restlos aufgeklärt wurden: Mitte der 1990er Jahre wurden Akten des DDR-Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) veröffentlicht, die einen schwerwiegenden Verdacht nahelegten: dass Gysi ein Spitzel der Stasi gewesen sei. 

Stasi-Zentrale in Berlin: So arbeitete der DDR-Geheimdienst

Eine Verpflichtungserklärung wurde allerdings nie gefunden. Trotzdem gelangte ein Bundestagsausschuss zur Überprüfung möglicher Stasi-Tätigkeiten von Abgeordneten zu der Einschätzung, Gysi sei Inoffizieller Mitarbeiter (IM) des Geheimdienstes gewesen. Der Rechtsanwalt, der zu DDR-Zeiten auch die Interessen von Regime-Gegnern vertreten hatte, wehrte sich vor Gericht mehrmals erfolgreich gegen die immer wieder erhobenen Vorwürfe.

Gysis Vater war Kulturminister in der DDR

Seiner Popularität - später auch im Westen Deutschlands - schadeten die Mutmaßungen über seine Vergangenheit nicht. Der Sohn des früheren DDR-Kulturministers Klaus Gysi überzeugt viele mit einem in der Politik seltenen Mix aus intellektueller Brillanz, Witz, Charme und Schlagfertigkeit. Diese Kombination machte ihn zu einem beliebten Gast in TV-Talkshows, begehrten Interview-Partner und von den anderen Parteien gefürchteten Debattenredner.

Und 35 Jahre nach der Wiedervereinigung Deutschlands darf er die erste Sitzung des neuen Bundestags eröffnen. Das sei ihm eine Ehre und eine Verantwortung, sagte Gysi im Interview mit der Wochenzeitung "Das Parlament". Er werde die erste und letzte Rede seines Lebens als Alterspräsident ohne Zeitbegrenzung halten. "Es ist wirklich angenehm, nicht ständig auf die Uhr schauen und nach zwei Minuten abbrechen zu müssen. Aber keine Sorge, ich werde das nicht missbrauchen."    

 

Deutsche Welle Marcel Fürstenau Kommentarbild ohne Mikrofon
Marcel Fürstenau Autor und Reporter für Politik & Zeitgeschichte - Schwerpunkt: Deutschland