Alles lief so gut
17. September 2015Ich war fast sechs, als wir 1992 aus dem Rheinland nach Schleswig-Holstein zogen - in eine Kleinstadt zehn Kilometer von der Nicht-mehr-Mauer. Mein Vater hatte einen Job am Gericht in der Nicht-mehr-DDR bekommen. Ab und zu fuhren wir nach Boltenhagen an die Ostsee oder nach Schwerin, über die jetzt verschwundene Grenze, durch eine Gegend, in der - glaubte man den Gerüchten - nur die ganz Linientreuen und die ganz Verrückten hatten leben dürfen. Ich fand das aufregend und ein bisschen beängstigend - lagen hier nicht vor kurzem noch Landminen? Waren die wirklich alle weg?
Zwei Jahrzehnte später zog ich in das schon lange nicht mehr geteilte Berlin. Dass dort mal die Mauer stand, habe ich nie gespürt. Checkpoint Charlie, die Sonnenallee - für mich eine U-Bahn-Station und die Straße mit der gefühlt höchsten WG-Dichte der Stadt.
Vielleicht ist die deutsche Wiedervereinigung zu groß, um sie zu begreifen, wenn man sie nur vor dem Fernseher mit vier Jahren erlebt hat. Ein vereinigtes Deutschland, das ist für mich lebenslange Normalität.
Einmal kam das Gespräch auf die Einheit, in einer Bar im tiefen Westen, in der Nicht-mehr-Hauptstadt Bonn, mit zwei Bekannten, beide mindestens ein Jahrzehnt älter als ich. Das wäre viel zu schnell gegangen, meinte er. Sie ging noch weiter: Deutschland hätte besser geteilt bleiben sollen. Für mich glich das Blasphemie. Sicher gab es Schwierigkeiten bei der Wiedervereinigung, aber ist es nicht ein Wunder, dass alles so gut lief, dass die Mauer heute so gut wie nie in meinen Gedanken auftaucht?